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Muskeln in der Kunst

Unser Körper hat etwa 600 Muskeln, von denen alles abhängt. Sie halten unseren Körper zusammen und verleihen ihm Stabilität. Marlen Gruner beschäftigt sich in der neuen sisterMAG Ausgabe mit der Bedeutung von Muskeln in Kunstwerken wie »Der Denker« vom berühmten Bildhauer Auguste Rodin und findet für euch heraus, wofür sie stehen und wie sie herausgearbeitet werden.

Fein, faserig, fulminant – Muskeln in der Kunst

600 Muskeln! Sie sind an der kleinsten Regung unseres Körpers beteiligt. Ob innerliche Körperfunktionen oder äußerliche Bewegung: Alles hängt von Muskeln ab. Diese faserigen Organe geben unserem Körper zusammen mit unserem Skelett Halt und Stabilität. Und sie tragen zu unserer Optik bei. Genau das wird zum Fokus der folgenden Abschnitte über Muskeln in der Kunst. Wir suchen und finden Antworten auf die Frage nach der Bedeutung von Muskeln in Kunstwerken wie »Der Denker« von Auguste Rodin, wofür sie stehen und wie sie herausgearbeitet werden.

»Der Denker« von Auguste Rodin. Das Original aus Bronze steht im Musée Rodin in Paris, eine Kopie am Grab des Künstlers in Meudon. Er gilt als wohl wichtigstes Werk Rodins, mit dem er sich jahrzehntelang beschäftigte. »Der Denker« soll den Schöpfer der Göttlichen Komödie, Dante Alighieri, darstellen. Doch Modell stand Ende des 19. Jahrhunderts der französische Boxer Jean Baud. Seinen Körper durchzogen unzählige Muskeln, die sich als visuelles Element sowohl in der Malerei als auch in der Bildhauerei über Jahrhunderte hinweg immer wiederfinden.

Bedeutung von Muskeln in der Bildhauerei und Malerei

In Plastiken und in der Malerei stehen Muskeln für Energie und Kraft. Sie symbolisieren physische Stärke und signalisieren Gesundheit (6). Und sie bringen eine optische Komponente mit. So formen Muskeln nicht nur einfach einen athletischen Körper, sondern definieren ihn und verleihen ihm damit eine ästhetische Ausdruckskraft.

Dabei nutzen Maler wie auch Bildhauer das Spiel von Licht und Schatten. Sie beziehen es förmlich in ihren kreativen Schaffensprozess ein und lassen Muskeln dadurch deutlicher werden und natürlicher erscheinen. Licht fällt auf das, was hervorsteht. Was darunter liegt, befindet sich im Schatten.

Auf diese Weise schafft der Künstler eine Mehrdimensionalität. Besonders Rodin war dafür bekannt, bei seinen Modellen auf »Wölbungen und Vertiefungen der Haut […] und auch die angespannten und entspannten Muskeln« (2) zu achten. Dieses genaue Hinsehen und Abbilden ist wesentlich und unabdingbar in der Bildhauerei und Malerei.

Von Muskelgruppen und -strängen

Zugrunde liegt hier die Anatomie des menschlichen Körpers mit ihren verschiedenen Muskelgruppen und -strängen. Sie halten den Körper – gemeinsam mit dem Skelett – zusammen und machen ihn beweglich.

Und genau diese Bewegung ist spannend für Künstler: Ist der Muskel angespannt oder entspannt, ist eine wesentliche Frage. Wo liegt er, lautet eine andere. Auf Papier, Leinwand oder innerhalb einer Skulptur muss das entsprechend der Lage und Kontraktion gezeichnet oder geformt werden.

Dafür empfiehlt es sich, medizinische Grundkenntnisse zu haben. Wobei der Künstler nicht unbedingt wissen muss, welche Funktion einzelne Muskeln haben. Jedoch hilft ihm dieses Know-how zu verstehen, wie sich die entsprechenden Muskeln bei Bewegung verhalten. Andererseits ist die Anatomie bzw. sind anatomische Zeichnungen auch ein Fachgebiet in der medizinischen Ausbildung. So begegnen sich die Bereiche Medizin und Kunst.

Herausarbeitung von Muskeln in der Kunst

Die Malerei bietet dabei eine Fläche, die ein- bis zweidimensional bespielbar ist, wobei die Zweidimensionalität durch eine optische Täuschung entsteht. Genau das machen sich Künstler zunutze, um Muskeln detailgetreu und nicht selten auch verblüffend natürlich auf Papier, die Leinwand oder an die Skulptur zu bringen. Hier kommen wieder Licht und Schatten ins Spiel.

Bei Kunstwerken wie Plastiken, Skulpturen oder Objekten ist dieses Vorhaben ungleich schwerer, da hier die Dreidimensionalität in den künstlerischen Herstellungsprozess einbezogen werden muss. Dabei zu bedenken ist nämlich, dass das Kunstwerk von allen Seiten aus ein »gutes Profil« (1) ergeben muss, wie Rodin einst forderte. Muskeln sollten demnach von vorn, hinten und der Seite immerzu originalgetreu aussehen. Daher betrachten Künstler ihre dreidimensionalen Objekte aus allen Winkeln.

Der Trick im Modellieren und Zeichnen von Muskeln sind übrigens neben der richtigen Vorstellung von Körperbau und Proportionen: Striche. Je mehr man setzt, desto sehniger und fettfreier (3) wirkt der Körper. Sie definieren den Körper optisch.

Muskeln in der Kunst im Laufe der Jahrhunderte

Diese Technik wandte übrigens bereits Leonardo da Vinci im Zeitalter der Renaissance bei den Menschen in seinen Bildern an, die nach starrer Unbeweglichkeit im Mittelalter nun dank vieler feiner Striche zu Wesen aus Fleisch und Blut wurden. Da Vinci entwickelte um 1490 die bis heute bekannte Skizze des vitruvianischen Menschen. Sie zeigt einen Mann mit ausgestreckten Armen und Beinen in zwei übereinander gelagerten Positionen. Die Studie wurde zum Sinnbild für die neue Weltsicht, die den Mensch und seinen Körper in den Mittelpunkt rückte.

Rund 150 Jahre später war es der junge Rembrandt van Rijn, der die Anatomie zu seinem Steckenpferd machte. Sezieren war im 17. Jahrhundert ein öffentliches Spektakel, Wissbegierige konnten so einen Blick in das Innere des Menschen werfen. Solch einen Einblick gewählte van Rijn im Jahr 1632 mit einer Auftragsmalerei: einem Gruppenbild für die Amsterdamer Chirurgengilde, dessen Farbgebung beeindruckt und das Auge direkt auf die Muskeln im Kunstwerk lenkt. In »Die Anatomie des Dr. Tulp« (4) stehen dunkel gekleidete Chirurgen um einen bleichen Leichnam herum, dessen sezierter Unterarm mit roten und orangefarbenen Tönen zum Hingucker wird.

Noch etwas später, gegen Anfang des 19. Jahrhunderts, vertiefte unter anderem Ernest Meissonier die Studie von Muskeln. Er malte mit Vorliebe gern Pferde und Soldaten, darunter sein Idol Napoleon Bonaparte. Um die Details und Anatomie von Reiter und Vierbeiner so genau wie möglich abbilden zu können, ließ er auf seinem Anwesen eine Reitbahn bauen und ritt nebenher, während er “die Abläufe, das Spiel der Muskeln, jede Einzelheit der Bewegungen und die verschiedenen Wechsel” (5) skizzierte. Muskeln sind also nicht nur ein physiologisch funktionierendes Organsystem, sondern sie sind auch hervorragende künstlerische Stilelemente.