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Interview »Tretjakow-Galerie« in Moskau

In einem Interview, das Caro vom sisterMAG-Team mit der Tretjakow-Galerie in Moskau geführt hat, könnt ihr mehr über russische Kunst, die Avantgarde-Bewegung und vor allem über unser Titelgemälde »Die Parfümerie« von Olga Rosanowa erfahren. Welche Verwirrungen es z.B. mit der genauen Titelbezeichnung des Kunstwerkes gibt und vieles mehr erfahrt ihr hier im sisterMAG .

Interview »Tretjakow-Galerie«

Meisterwerke der russischen Kunst vom 11. bis zum 20. Jahrhundert

In unserem Jahr der Kunst präsentieren wir euch nicht nur regelmäßig die Kunstwerke selbst, sondern auch die Institutionen, in deren Sammlungen sie sich befinden. Es fehlt definitiv noch eine wichtige Epoche in der Kunstgeschichte: Die »russische Avantgarde«, die etwa zwischen 1905 und 1934 im Kanon eingeordnet wird. Moskau und St. Petersburg wurden zu wichtigen Orten für Künstlerinnen und Künstler und haben große Namen hervorgebracht. Die Tretjakow-Galerie in Moskau ist im Besitz zahlreicher bedeutender Meisterwerke aus dieser Zeit und auch das Gemälde unserer aktuellen Ausgabe von Olga Wladimirowna Rosanowa (1886 – 1918) befindet sich dort, die wir in einem Interview gerne etwas besser kennenlernen wollen.

Wer war die Künstlerin Olga Wladimirowna Rosanowa, was für einen Stil hat sie verfolgt und was war ihr Tätigkeitsbereich?

OLGA WLADIMIROWNA ROSANOWA (1886 – 1918) ist einer der hellsten Charaktere der RUSSISCHEN AVANTGARDE. Ihre Kollegen – Malewitsch, Stepanowa, Majakowski, Krutschonych – haben ihr Talent bewundert. RODTSCHENKO nannte sie eine »GENIALE MEISTERIN«, und Malewitsch selbst war neidisch auf ihre Farbwahrnehmung. Obwohl Rosanowa im jungen Alter von 32 Jahren verstarb, machte ihr künstlerischer Stil viele Wandlungen durch. Sie experimentierte viel mit neuen Stilen, bevor sie ihren eigenen fand. Rosanowas frühe REALISTISCHE ARBEITEN (Freilichtmalerei sowie Stillleben und Portraits) wurden vom FAUVISMUS und vom FUTURISMUS beeinflusst und entwickelten sich dann zu abstrakter Kunst. Da sie eine absolute Individualistin in ihrer Kunst war, beschränkte sich Rosanowa nicht auf eine bestimmte künstlerische Art und Weise – ebenso wenig wie viele andere Maler der Avantgarde. Sie dachte, dass charakteristische Stile eines Künstlers die Kommerzialisierung der Kunst fördert, wohingegen ein avantgardistischer Künstler stets Veränderungen begrüßen und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen sollte. In dieser Hinsicht war Olga Rosanowa ein wahres Vorbild für ihre Kollegen. Nach ihrem TOD im HERBST 1918 fand eine posthume AUSSTELLUNG ihrer Werke statt. Dies war die allererste Ausstellung nach der Russischen Revolution von 1917, die von der Regierung unterstützt wurde. Rosanowas Erbe ist vielfältig. Neben Gemälden hat sie ILLUSTRATIONEN für futuristische Literatur angefertigt, »transrationale« Verse gedichtet (»Transration« oder »Zaum« ist eine experimentelle poetische Sprache, die die russischen Futuristen erfunden haben), schrieb Manifeste und Artikel. Sie schuf ihre geometrischen Collagen zur gleichen Zeit, in der MALEWITSCH an seinen suprematistischen Kompositionen arbeitete, ihre Tsvetopis-Gemälde nahmen den abstrakten Expressionismus von MARK ROTHKO um einige Jahrzehnte vorweg. Rosanowa war ebenfalls interessiert an dekorativer und angewandter Kunst – sie gestaltete STOFFMUSTER, KLEIDUNGSSTÜCKE, HANDTASCHEN und VENTILATOREN.

Während unserer Recherchen traten stets einige Unklarheiten auf, da es offensichtlich viele Titel für Rosanowas Werke gibt: »Friseursalon«, »Friseurladen«, »Das Frisörgeschäft«… Können Sie uns aufklären? Welcher ist der richtige und der von der Künstlerin beabsichtigte?

Der Bildertitel »FRISEURSALON« ist nicht authentisch. Er wurde von einem der Besitzer vergeben – Nikolai Chardschijew oder George Costakis. Er tauchte nie in den Ausstellungsarchiven von Rosanowa auf. Daher wird das Werk im Katalog der Ausstellung russischer zeitgenössischer Kunst als »DIE PARFÜMERIE« bezeichnet. Die Objekte, die im Gemälde dargestellt sind (ein Kamm, eine Haarbürste, Wimpernverlängerungen oder eine Werbung für Mascara, ein Damenstrumpf) verweisen sehr wahrscheinlich eher auf das Angebot eines Ladens als auf das Schild eines Friseursalons. In der Literatur hat das Bild üblicherweise ZWEI TITEL: »DIE PARFÜMERIE« (»DER FRISEURSALON«). Der Titel des Gemäldes wurde 2019 beim Treffen des Attributionsrats der Tretjakow-Galerie offiziell in »DIE PARFÜMERIE« geändert.

Könnten Sie etwas über dieses Gemälde (1915) sagen, das Teil Ihrer Sammlung ist?

Wir wissen nicht viel über den Arbeitsprozess von Rosanowa. Die meisten ihrer Gemälde hat sie eigens für Ausstellungen angefertigt, zu denen sie als Teilnehmerin eingeladen wurde. Im Jahr 1915 hat Rosanowa einige Gemälde geschaffen (»Das Rhythmometer«, »Der Kerosinkocher«, »Der Schreibtisch«, »Das Nähkästchen« und »Der Geschirrschrank«), die dem Bild ähnlich sind, das wir besprechen. All diese Werke haben einen ähnlichen Stil, kombinieren sie doch alle ABSTRAKTE FORMEN und sorgfältig GEMALTE OBJEKTE aus der realen Welt. Kritiker betonen die Originalität dieser Technik. Sie stellen die »sanfte« und »liebevolle« Art der Künstlerin, ein Objekt an den KUBISTISCHEN ECKEN darzustellen, und die futuristischen Transformationen der Dinge gegenüber.

Wann und wie kamen die Gemälde von Rosanowa in den Besitz der Tretjakow-Galerie?

Nach Rosanowas Tod wurden alle ihre Gemälde in ihrem Atelier zurückgelassen – vor allem deshalb, weil ihre Arbeiten und die ihrer Zeitgenossen keinen kommerziellen Erfolg hatten. Später wurden Rosanowas Werke aus ihrer persönlichen Ausstellung von 1919 in STAATSMUSEEN in verschiedenen Städten geschickt. Allerdings wurde »DIE PARFÜMERIE« in diesem Jahr nicht ausgestellt, das Bild wurde später in einer PRIVATEN SAMMLUNG gefunden. Wir wissen nicht, wie genau das Gemälde in der Sammlung von NIKOLAI CHARDSCHIJEW gelandet ist (Nikolai Chardschijew war ein russischer Schreiber, Literatur- und Kunstsammler. Er besaß ein umfangreiches Archiv und eine Sammlung russischer Avantgarde-Kunst und -Literatur.) Aber wir können annehmen, dass der Sammler die Arbeiten von Alexei Krutschonych erhalten hat, einem engen Freund von Nikolai Chardschijew und Olga Rosanowa. Als GEORGE COSTAKIS, ein anderer herausragender Sammler russischer Avantgarde, seine einzigartige Kunstsammlung schuf, konsultierte er Chardschijew und kaufte ihm einige Gemälde ab. Als Costakis 1977 die UdSSR verließ, spendete er der Tretjakow-Galerie den größten und wertvollsten Teil seiner Sammlung, zu dem auch Rosanowas »Die Parfümerie« gehörte. Heute ist es ein Teil der Dauerausstellung in der Neuen Tretjakow-Galerie.

Was sind die Besonderheiten der »russischen Avantgarde« im Verlauf der Zeit?

Es ist unmöglich, die russische Avantgarde in einem oder wenigen Worten zu beschreiben, weil sie von so vielen herausragenden, klugen und einzigartigen Künstlern geprägt wurde. Aber eine Sache, die wir mit Sicherheit unterstreichen können, ist die Art, wie diese Künstler europäische (vor allem französische) Kunstpraxis interpretiert haben. ROSANOWAS ARBEIT ist eine gewagte ANTWORT auf die FRANZÖSISCHEN KUBISTEN. Sie war eindeutig vertraut mit den Kompositionen von PICASSO und BRAQUE aus den frühen 1910ern, in denen Kollagen und komplexe Muster von facettenartigen Formen Seite an Seite auf die weiße Fläche einer Leinwand gemalt wurden. Indem sie der gleichen Formel folgt, bringt Rosanowa naive Elemente, die für die VOLKSKUNST typisch sind, in ihre Gemälde.

Welche künstlerischen Positionen werden neben Rosanowa noch in Ihrer Sammlung repräsentiert? Was ist der thematische Schwerpunkt Ihrer Sammlung?

Die Tretjakow-Galerie ist die weltweit führende Verwahrungsstelle russischer bildender Kunst. Sie wurde 1856 vom russischen Kaufmann, Kunstmäzen, Sammler und Philanthropen PAWEL TRETJAKOW gegründet. Die Sammlung der Galerie beinhaltet Ikonen, Skulpturen, Grafiken, angewandte Kunst und die bedeutsamsten Werke RUSSISCHER KÜNSTLER DES 19. JAHRHUNDERTS. Das Glanzstück der Sammlung der NEUEN TRETJAKOW-GALERIE (Krymsky Val Straße, Moskau) sind die AVANTGARDISTISCHEN ARBEITEN, unter denen sich die anerkannten Meisterwerke des Genres befinden: »Das Schwarze Quadrat« von Malewitsch (1915), »Komposition VII« von V. Kandinsky (1913), Arbeiten von V. Tatlin, M. Larionow, N. Gontscharowa, L. Popowa, A. Exter, A. Rodtschenko und anderen.