Follow my blog with Bloglovin

»Ohne Titel« – Über unbenannte Kunstwerke

Was sagt uns ein Name? Geht es um Kunst, idealerweise nicht viel. Liegt ein Titel vor, kann er den Betrachter beeinflussen. Genau wie der Künstler seine Arbeit mit einer leeren Leinwand beginnt, sollte auch das Publikum unbenannte Kunstwerke ohne eine zusätzliche Erklärung erleben können. Vielleicht haben gerade deswegen so viele Künstler ihre Werke »sans titre«, also »Ohne Titel« veröffentlicht, um dem Betrachter den vollen Spielraum für seine eigenen Interpretation zu lassen.

Über Kunst »Ohne Titel«

Die Kunstwelt ist voller unbenannter Kunstwerke – weshalb?

Ich erinnere mich noch genau an die Art und Weise, wie ich die Bezeichnung ‘ohne Titel’ kennenlernte. Sie leuchtete mehrere Male am Tag vor meinen Augen auf und brachte mich dazu, eine Entscheidung zur Kunst zu treffen. Es war Mitte der 1990er und meine Leinwand war Microsoft Paint. Nachdem ich lange genug mit der Maus auf dem Bildschirm herumgekritzelt hatte, klickte ich auf das kleine ‘x’ in der oberen rechten Ecke, um das Programm zu schließen. Ein kleines Pop-Up fragte mich, ob ich die Änderungen an ‘ohne Titel’ speichern wolle. Ich habe diese Nachricht hunderte Male gelesen. Wenn ich meine Kreation für würdig hielt, dachte ich mir einen Namen aus; wenn nicht war meine Antwort ‚nein‘, oder ich benannte die Datei  ‘ohneTitel1’ oder ‘ohne Titel neu‘.

Viele echte Künstler – deren Portfolio über MS Paint hinausreicht – arbeiten nicht in dieser Weise. Es sind nicht  ihre „Abfälle“, die mit sans titre bezeichnet werden. Im Gegenteil: Viele Meisterwerke tragen keinen Titel. Eines der teuersten amerikanischen Bilder aller Zeiten, gemalt von Jean-Michel Basquiat, ist ohne Titel. Viele von Mark Rothkos Bildern werden nur durch ihre Farben identifiziert, nicht etwa durch einen Namen. Oder:  Bands haben Hits ohne Titel in ihrem Katalog. In vielen Fällen sind sowohl die Arbeiten als auch ihre Urheber anonym.

Der Titel eines abstrakten Kunstwerkes engt die Aussage des Werkes ein und limitiert die Interpretationsmöglichkeiten. Kunst ist subjektiv, also beeinträchtigt jeglicher Hinweis auf mögliche Bedeutungen den heiligen Dialog zwischen Künstler und Betrachter.

Es ist spannend, dem Selbstportrait des 20 jährigen Pablo Picasso von 1901 gegenüber zu stehen und seine Gedanken streifen zu lassen. Läuft etwas in seinem Leben schief? Was könnte das bewusst unterkühlt gemalte Bild sagen wollen? Zeigt es uns die Strapazen des kalten Pariser Winters? Sollten wir über die Gesundheit des jungen Künstlers besorgt sein? Oder weist der kühle blaue Hintergrund auf den Beginn der »Blauen Periode« Picassos von 1901 bis 1904 hin? Es gibt einem Künstler sicherlich Kraft zu wissen, dass das Publikum sich seine individuellen Gedanken und Sichtweisen zu seinem Werk macht.

Bedenken wir auch das Klischee, nachdem ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Das soll nicht bedeuten, dass ein Bild in einem Essay beschrieben werden könnte. Im Gegenteil: Oft können Worte einem Bild einfach nicht gerecht werden.  So beschreibt auch ein Liedtitel wenig  von der sentimentalen Beziehung, die wir zu  einem Lied haben. Menschen erleben eine Bandbreite an Emotionen, die nicht beschrieben werden kann. Gefühle, Emotionen können jedoch unausgesprochen von einer Seele zur anderen durch Pinselführung, Farbkombinationen, Farbauswahl  eines Bildes oder Auswahl der skulpturalen Linienführung wandern. Warum sollte man eine solch instinktive Erfahrung beschriften wollen?

Eigentlich gibt es nur einen Grund für einen Titel: Kataloge. Kunstwerke werden benannt, wenn kommerzielle Interessen bestehen.

»Viele Kunstwerke waren, historisch gesehen, unbenannt. Museen, Kunsthistoriker, Sammler, Galerien und Auktionshäuser haben diesen Werken Titel angehängt, um sie der Klarheit halber unterscheiden zu können, oder um narrativen Kontext und Symbolismus zu vermitteln«, erklärt[1] ein Kunstlehrer im bekannten Forum Quora. »Kein Kunstwerk muss einen Titel haben, bis es zu Ware wird…und der Bedarf entsteht, dass es verfolgt und seine Authentizität nachgewiesen werden kann.«

Heute bieten Werke ohne Titel ein Gegengift zu unserer kurzen Aufmerksamkeitsspanne. Wenn jede Fotografie, jedes Gemälde und Konzept von einer kurzen Erklärung begleitet wäre, würden wir wahrscheinlich einen kurzen Blick darauf werfen und wie auf der Suche nach dem nächsten Date wegklicken. Stattdessen werden wir ohne Titel dazu eingeladen, mehr Zeit mit dem zu verbringen, was sich vor uns befindet – eine Übung in der zeitlosen Kunst des kritischen Denkens.

[1] https://www.quora.com/Do-some-artists-leave-their-work-untitled-because-they-are-not-so-good-at-expressing-themselves-in-words-as-visually