Follow my blog with Bloglovin

Die Muse für Rodin – Gwen John

Rodin hatte um das Jahr 1900 international den Durchbruch geschafft. Durch sein hohes Ansehen war es ihm möglich geworden, nicht nur erotische Szenen darzustellen, sondern auch die Bildhauerkunst zu revolutionieren, indem er fragmentarische Körperteile und Figuren als autonome Kunstwerke schuf. Seine Muse war lange Zeit die junge walisische Malerin Gwen John, die Michael Neubauer euch im sisterMAG vorstellt und genauer unter die Lupe nimmt.

  • Text: Dr. Michael Neubauer

Die Muse für Rodin – Gwen John

1897 gründete der amerikanische Maler James McNeill Whistler die Internationale Society of Sculptors, Painters und Gravers in London. 1903 verstarb er. Zur Eröffnung einer großen Whistler-Werkschau 1905 in London wurde beschlossen, ihn durch ein Denkmal zu verewigen. Als Künstler dafür fiel die Wahl auf Auguste Rodin, der nicht nur Mitglied sondern seit 1903 Präsident der o.g. Society war.

Rodin hatte um das Jahr 1900 international den Durchbruch geschafft. Sein Ansehen erlaubte ihm, nicht nur gewagte erotische Szenen darzustellen, was in Paris in dieser Zeit durchaus beliebt war, sondern er revolutionierte die Bildhauerkunst, indem er auch fragmentarische Figuren, Torsi, Beine, Hände etc. als autonome Kunstwerke schuf.

Einfach eine getreue Abbildung James McNeill Whistler zu erschaffen, war ihm zu banal. Er verfolgte das Ziel, Whistlers Ideen, seine Intuitionen, seine Kunst auszudrücken und nicht seine äußere Erscheinung. Er dachte an die „Muse“, die Whistler inspiriert und getrieben hat. Ein graziles, ausdrucksstarkes, wohl geformtes weibliches Modell schwebte ihm in vor und das stand vor der Tür: Gwendolen Mary John, genannt Gwen John – eine junge walisische Malerin.

Gwen John wurde 1876 in dem kleinen Ort Haverfordwest im Süden von Wales geboren. Als sie acht war, zog die Familie nach Tenby an die walisische Küste. Eine raue Küstenlandschaft, wilde, steile Ufer und ein landwirtschaftlich geprägtes, wenig besiedeltes Land vermittelten ein Gefühl der Freiheit und der Liebe zur Natur. Schon frühzeitig zog sie mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Auguste mit Zeichenblatt und Stift durchs Land. Beide malten mit großer Freude. Eine private Schulbildung vermittelte nur wenig – gutes damenhaftes Benehmen und immerhin die französische Sprache. Beiden, Gwen und Auguste war es vergönnt, für 3 Jahre an der Londoner „Slade School of Art“ das künstlerische Handwerk eines Malers zu erlernen.

Erstmalig brachte Gwen John ein Studienaufenthalt beim amerikanischen Maler James McNeill Whistler 1898 mit Paris in Berührung. Bei ihm erwarb sie das Gefühl für Farben, für Tönungen, Farbabstufungen. Eine erste Ausstellung in London folgte. Eigentlich mit dem Ziel Rom endete die folgende Wanderschaft, die sie mit ihrer Freundin Dorelia McNeill, eine der späteren Frauen ihres Bruders Auguste, begonnen hatte, bereits in Toulouse. 1904 zog es beide nach Paris. Rodin war der strahlende Stern am Pariser Künstlerhimmel. Natürlich suchte sie seine Nähe, zielstrebig, ehrgeizig wie sie war und sei es als Modell. Sofort war sie von seiner Güte, seiner menschlichen Wärme, seiner kraftvollen Persönlichkeit überwältigt. Sie zog sich aus und er, der 63jährige bewunderte ihren sportlichen, schlanken, fraulichen Körper. Sie verliebte sich leidenschaftlich in ihn und er sah sie als das perfekte Modell für seine Muse. Ihr körperliches Verlangen zu ihm kannte bald keine Grenzen mehr. Sie liebten sich auf dem Boden seines Ateliers oder in ihrem gemieteten Zimmer. Bald konnte sie an nichts Anderes mehr denken. In Stunden der Einsamkeit flossen hunderte kleine Briefe an Rodins Adresse.

Aus „Die Muse des Bildhauers“ von Alexandra Lavizzari (S.131):

O mein Meister, es gibt keinen Mann wie Sie auf der Welt, Sie sind die Schönheit meines Lebens! Sie kümmern sich um meine Bedürfnisse, das ist so gütig von Ihnen, aber wenn ich hungerte oder kalt hätte, wäre meine Seele noch die zufriedenste und glücklichste auf Erden, … weil ich Sie liebe, mein Meister, aber meine Liebe zu Ihnen ist das Schönste, was Sie mir geben.“

Sie malte immer weniger. Quälende Stunden, derer sie sich des Versagens anklagte, wechselten mit schlaflosen Nächten, in denen sie sich träumerisch mit ihrem „Meister“ auseinandersetzte. Freunde, Verwandte, ihr Bruder, ja selbst Rodin versuchten sie von ihrer Liebessucht abzubringen. Er verweigerte sich, verkehrte mit anderen Frauen, nichts half. Sie passte ihn ab, begleitete ihn zum Bahnhof, verbrachte Nächte in seinem Garten in Meudon, aß wenig, vernachlässigte sich.

Obwohl seine Liebe zu ihr verblasste, behielt Rodin bis zu seinem Tode 1917 eine tiefe freundschaftliche Zuneigung zu Gwen. Eine rege Korrespondenz verband sie bis zum Schluss, die ihr Hilfe und Halt gaben. Dieses Vertrauen half ihr auch, wieder an eigene Arbeiten zu denken. Sie musste sich anfangs regelrecht zwingen, Pinsel und Farbe in die Hand zu nehmen.

Zu Rainer Maria Rilke, dem zeitweiligen Sekretärs Rodins, hielt sie Freundschaft, wechselte mit ihm Briefe und Meinungen bis zu dessen Tod 1926. Auch er hatte versuchte ihr das wechselhafte, für sie oft enttäuschende Verhalten Rodins zu erklären (Quelle s.o. S. 183):

„Nicht nur Rodin, auch andere Künstler, Cezanne und van Gogh zum Beispiel, haben ihr Leben der Kunst geschenkt und von ihr nie etwas erwartet. Kompromisse in der Kunst sind nicht möglich, geht man sie ein, so geschieht es stets auf Kosten der Kunst.“

Die „Muse“ zu Ehren James MacNeill Whistler ist nie völlig vollendet worden. Ganz im Sinne Rodins sind die Arme nur teilweise angelegt, sie steht auf einem Bein, das andere ist angehoben und abgespreizt und erklimmt mit diesem „den Berg des Ruhms“. Der leicht gebeugte Oberkörper hat aber nie die Themse am Chelsea Embankment gesehen. Die Whistler-Muse war ein solcher Schock für die Society, dass sie die Arbeit aufgab. Sie steht heute vor dem Musee Rodin in Paris.

Noch zu Lebzeiten Rodins wurde Gwens Arbeit durch eine neue Bekanntschaft gefördert. 1909 hatte ein New Yorker Rechtsanwalt in London bereits verkaufte Bilder von ihr gesehen und bewundert. Er bot ihr an, alle Bilder, die sie bereit war zu verkaufen, zu erwerben. Insgesamt 20 Gemälde und nahezu 100 Zeichnungen überquerten den Atlantik. Sie bezog eine kleine bescheidene Wohnung in Meudon, immer noch war ihr die Nähe zu Rodin heilig. Das Modellsitzen war nicht mehr nötig, sogar ein kleines eigenes Haus war später ihr eigen. Zurückgezogen, bescheiden und streng mit sich selbst, dem äußeren Leben abgewandt vertiefte sie sich in den katholischen Glauben. Immer auf der Suche nach einem Menschen, dem sie ihre Zuneigung, ihre Liebe schenken konnte, glaubte sie in den letzten Jahren diesen in ihrer Nachbarin der russischen Emigrantin Vera Oumancoff gefunden zu haben. Aber auch diese ertrug die Umklammerung nicht. Sie hielt Gwen fern, Liebesgaben, kleine Zeichnungen, Briefe erbrachten keinen Widerhall. Nach kurzer Krankheit auf einer Reise (Flucht?) ans Meer verstarb Gwen 63jährig in Dieppe.

Gwen Johns Themen in der Malerei waren vornehmlich Porträts ihr vertrauter Menschen, Stillleben, Selbstbildnisse und Katzen, meist kleinformatig. Viele ihrer Bilder behielt sie selbst, merkantile Interessen waren ihr völlig fremd.

Kasten:

Mehr Infos zu Rodins anderer berühmter Muse Camille Claudel findet ihr in unserem Artikel in sisterMAG 28 (https://www.sister-mag.com/magazin/sistermag-no-28-1-februar-2017/camilleclaudel-marmorkunst/)