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Kleidung für das Volk – Künstlerinnen der russischen Avantgarde

Künstlerinnen der russischen Avantgarde zeigten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein großes Interesse an der Gestaltung und Produktion von Kleidungsstücken und entwickelten für das revolutionäre Volk in Russland einen eigenen Stil. Mehr zu dem Thema erfahrt ihr in dem sisterMAG-Artikel von Julia Laukert.

Kleidung für das Volk

Die Künstlerinnen der russischen Avantgarde

Anfang des 20. Jahrhunderts war in Künstlerkreisen ein reges Interesse an der Gestaltung und Produktion von Kleidung zu beobachten. KünstlerInnen in Europa wie auch im revolutionären Russland begannen, sich individuell oder im Kollektiv mit dem Thema Mode auseinanderzusetzen. Dafür gab es persönlich motivierte sowie praktische und notwendige Gründe. Die Menschen besaßen in damals eine kleine Garderobe. Auch die Farbpalette war sehr beschränkt. Ausgefallene Kreationen gab es nur von Werkstätten, Couturiers am Theater oder in Kunstkreisen. Massenproduktion war auf dem Vormarsch. Für die industrielle Produktion von Kleidung wurden in Russland viele bekannte Künstlerinnen engagiert. Sie sollten für das revolutionäre Volk einen Stil entwickeln.

Während es in Frankreich und Italien wenig Künstlerinnen gab, genossen die avantgardistischen Kolleginnen in Russland wie Nadeschda Lamanowa (1861 – 1941), Alexandra Exter (1882 – 1949), Ljubow Popowa (1889 – 1924) oder Warwara Stepanowa (1894 – 1958) einen großen Bekanntheitsgrad. Kulturell betrachtet gestalteten Frauen im Osten das Gemeinwohl aktiv mit und wurden als gleichwertige Künstlerinnen geschätzt. Als Mitgestalterinnen eines neuen Zeitalters besaßen KünstlerInnen eine wichtige Rolle, die sie aktivierte, ihre Kunst der Industrie zu widmen. Hingebungsvoll und auf einem wissenschaftlich-technischen Niveau stellten sich die KünstlerInnen auf die materielle Versorgung des riesigen Volkes ein.

Damals herrschte eine revolutionäre Zeit, die die Tradition und »das Alte« in Frage stellte. Die Armut des Volkes unter der Monarchie der Zarenfamilie wurde nicht länger geduldet. Die Revolution beeinflusste unter anderem eine Kunstbewegung, die sich der Idee des Fortschritts anschloss. Die Geburtsstunde des Konstruktivismus wurde eingeläutet: Eine avantgardistische Strömung, die die gegenstandslose Kunst zugunsten produktivistischer und industrieller Ästhetik forderte. Über den Rand der Leinwand geblickt, betraf es alle Bereiche des Alltags. Dazu zählte auch die Neudefinition von Kleidung, die zur »neuen Zeit« und dem modernen, arbeitenden Menschen passen sollte.

Die Künstler-Ingenieurinnen: Lamanova, Exter, Popowa & Stepanowa

Für die industrielle Serienanfertigung entwarf die Künstlerin Nadeschda Lamanowa eine gradlinige, rechteckige und unkomplizierte Schnittform. Aus heutiger Sicht eine sehr fortschrittliche Lösung. In ihrem Buch »Das konstruktive Kleid« beschreibt Alexandra Exter, dass jedes Objekt den Gesetzen des Materials unterworfen ist, gleichgültig ob es sich um Bildhauerei oder Schneiderkunst handelt. Für Farben definierte Exter eine klare Regel: Ein simpler Schnitt benötige eine Zweifarbigkeit, einer komplexen, geometrischen Kleiderform genüge Einfarbigkeit. Angeregt durch ihre Arbeit als Bühnen- oder Kostümbildnerinnen am Theater suchten auch Ljubow Popowa und Warwara Stepanowa Lösungen für industriell hergestellte Kleidung. Popowa kreierte Kleidermodelle, die ihre Trägerin durch kühne Farb- und Musterkombinationen aus ihrer Umgebung heben sollte. Ihr Wunsch, sehr moderne Stoffe zu verwenden, passte nicht zum Produktionsplan der sozialistischen Bekleidungsindustrie. Kleidung sollte einfach und schnell für ein großes Volk hergestellt werden, sie musste zweckmäßig, hygienisch und bequem sein. Nach dieser Vorgabe entwickelte die Konstruktivistin Warwara Stepanowa, drei Prototypen: Prozodeschda, Spetsodeschda und Sportodeschda, also Berufskleidung, Spezialkleidung und Sportkleidung. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alexander Rodtschenko (1891 – 1956) kreierte die sowjetische Künstlerin den bekannten Monteuranzug von 1925. Ein Overall, den Rodtschenko, seine Freunde sowie der Bauhauslehrer László Moholy-Nagy bevorzugt trugen. Rodtschenko war es auch, der den Begriff »Künstler-Ingenieur« prägte. Der Anzug verlieh ihm eine vorzeigbare Gestalt. Zweifellos sind Lamanowa, Exter, Popowa und Stepanowa als Künstler-Ingenieurinnen zu bezeichnen. Kreativität, technisches Know-How und der Wunsch nach Fortschritt ist ihnen gemeinsam.

Kleidung sollte einfach und schnell für ein großes volk hergestellt werden, sie musste zweckmässig, hygienisch und bequem sein.

MIT ZIRKEL UND LINEAL: DAS KONSTRUKTIVISTISCHE STOFFDESIGN

Stepanowas und Popowas Kleiderentwürfe besitzen einen plakativen Charakter. Ganz im Stil der Revolution zeichnet sich ihr Stoffdekor durch Geometrie, Wiederholungen und Symmetrie aus: Konstruktivistische Stilelemente mit funktionalem Aspekt und praktische Meterware für die Produktion. Inspiriert vom avantgardistischen Formenrepertoire entwickelten die Designerinnen auffällige, bunte Stoffmuster, Ursprünglich orientierten sich russische Textilmuster und Stoffe an veralteten Musterbüchern aus Frankreich oder an traditionellen Blumendekoren. Durch ihren Minimalismus haben die Textilentwürfe der Konstruktivistinnen ihre Aktualität bis heute nicht verloren.

KLEIDER FÜR ALLE!

Zum Leidwesen der russischen KünstlerInnen erreichten ihre Anstrengungen für die Neugestaltung der Mode nicht das, was sie sich erhofften. Materialknappheit verhinderte die Umsetzung. Die Rückständigkeit der Sowjetunion blieb nach dem ersten Weltkrieg, den Revolutionen und dem Bürgerkrieg von 1921 bis 1927 bestehen. Nur ein kleiner Teil der entworfenen Kleider und Stoffe ging in die Serienproduktion. Stepanowa zum Beispiel entwarf zwanzig Textilmuster, von denen letztlich nur zwölf produziert wurden. Die von den Manufakturen propagierten Veränderungsmöglichkeiten konnten nur in geringem Maße umgesetzt werden. Allerdings wären unsere Propagandistinnen keine Künstlerinnen, Ingeneurinnen und Modedesignerinnen, hätten sie hierfür keine Lösung gefunden. Schließlich galt es, die Idee unter das Volk zu bringen: So publizierten sie ihre Modellentwürfe als Schnittmustern in Zeitungen mit beigefügten Empfehlungen für geeignete Stoffe. Eine effektive Lösung, da die meisten Frauen damals ihre Kleider selbst nähten. Durch die eigenständige Herstellung von Kleidung wurde so fernab der Massenproduktion eine gleichwertige Individualität geschaffen.