Kunst
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Das Pariser Stadtbild
Im 19. Jahrhundert wurde das kleinteilige Pariser Stadtbild durch das Anlegen von Boulevards und Plätzen großzügig von Baron Haussmann umgestaltet. Heutige Denkmalpfleger würden vermutlich in Ohnmacht fallen, doch schuf dieser Umbau ohne Zweifel jene eleganten Straßenzüge, die wir nun mit der französischen Metropole verbinden. Besonders die Impressionisten widmeten der neuen Stadtästhetik viel Aufmerksamkeit und hielten sie in ihren Gemälden fest.
- Text : Robert Eberhardt
Auch an einem regnerischen Tag ist das Spazieren entlang eines Pariser Boulevards immer vor allem eines: ein Auftritt. Die gerade Linie seines Verlaufs, die breiten Trottoirs, die eleganten Fassaden mit ihren gusseisernen Balkonbrüstungen rufen auch die Fußgänger zu Haltung und Stil auf. Über dieses Pflaster kann man nur schwerlich eilen oder in sich versunken Herumtrödeln. Der Boulevard ist ein Laufsteg und nirgendwo sonst verwirklicht sich auf eine fussläufig-demokratische Weise der Traum von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Auf dem Grand Boulevard, dem Boulevard Malesherbes oder Boulevard Haussmann, wird jeder Gänger zum edlen Herrn, jede Gängerin zur Dame. So wie auf dem Gemälde von Gustave Caillebotte, das eine Straßenkreuzung (Place de Dublin) zeigt, wie sie für den großen Umbau der Hauptstadt im 19. Jahrhundert beispielhaft ist: verschiedenen Straßen laufen in spitzen Winkeln zusammen, die Hausecken sind abgekantet, der bis heute mitunter fortbestehende optische Dreiklang aus quadratisch-buckligen Pflastersteinen, Granit-Bordsteinkanten und Gehweg bildet den typischen Pariser Stadtboden.
Die Straßen, auf denen die Personen des Gemäldes entlang schreiten, waren damals, 1877, als das Bild gemalt wurde, erst rund 10 Jahre alt, also Neuanlagen. Jeder Fußgänger hatte noch das alte Pariser Stadtbild vor Augen, das vor allem in den inneren Arrondissements noch den alten mittelalterlichen Straßenverläufen entsprach. Zwar waren schon einige barocke Plätze und Freiräume geschaffen worden, längere und breite Verbindungsstraßen gab es jedoch recht selten. Inmitten der Stadt gab es regelrechte Slums mit Baracken, wie im »polnischen Viertel«.
Erst eine radikale Stadtplanung des dadurch berühmt gewordenen Barons Georges-Eugène Haussmann (1809-1891) brachte Änderung und schuf das heterogene Bild der Metropole Paris, wie wir es heute noch erlaufen können: mittelalterliche Gässchen im Marais und im Quartier Latin, barocke Prunkplätz wie der Place Vendôme und der Place des Victoires und eben jenen großen Schneisen des 19. Jahrhunderts, auf denen heute jeder mit dem Vélib (Leihfahrad) oder Taxi fährt, der schnell durch die Stadt muss.
Der Jurist Haussmann war zunächst Unterpräfekt in verschiedenen Provinzstädten und fiel dem Präsidenten und späteren Kaiser Napoléon III. durch seine erfolgreichen Bauprojekte auf. In ihm sah er den organisatorischen Gehilfen und Umsetzer seiner geradezu visionären Ideen für Paris. Im Schulterschluss mit dem Kaiser baute Haussmann zwischen 1853 und 1870 Paris zur Metropole des Industriezeitalters um. Allein die erhöhte Mobilität verlangte breite und lange Straßen. Aber natürlich erforderte auch das moderne Lebensgefühl und eine in jeder Hinsicht sich technisch rasch entwickelnde und emanzipierende Gesellschaft entsprechende Straßen, Sichtachsen, Gliederung der Stadtstruktur. Viel alte Bausubstanz musste fallen und wurde abgerissen. Insgesamt schuf Haussmann 150 Kilometer neue Straßen – und das im historischen Bestand. Zahlreiche ärmliche Viertel wurden durch seine Neuordnungen zu gehobenen Wohnarealen der Bourgeoisie. Zugleich achtete Haussmann beim Umbau der Stadt auf die Neuanlage von Grünflächen, so z.B. des Jardin de Luxembourg oder den Bois de Boulogne. Er baute eine neue Kanalisation und behob miserable hygienische Zustände. Meisterleistungen seiner urbanen Umgestaltung sind unter anderen die Neustrukturierung der Innenstadt, der Rue de Rivoli, von der aus man heute noch entlang des Louvres bis zu den Hochhäusern des Hochhausviertels La Defense blicken kann, also einmal quer durch die Stadt. Oder die großzügige Ordnung um die Oper oder die sternförmig auf die Place de l’Étoile zulaufenden Avenuen sowie das Quartier um den Bahnhof Saint-Lazare.
Haussmann ließ die neuen Straßen mit einheitlich gestalteten mehrstöckigen Häusern im klassizistischen Stil bauen. Zwar war die Kunstakademie eingebunden und alles entsprach dem streng-eleganten Pariser Stil – eine gewisse Künstlichkeit der schnell hochgezogenen neoklassizistischen Fassaden der meist fünfstöckigen Wohnbauten lässt sich aber nicht abstreiten. Die Monotonie der Fassadenläufe konnte nur durch dazwischen geschobene Repräsentations- oder Nutzbauten und kleine Parks verhindert werden. Mit ihrem gelblichen Sichtstein, den weißen, tiefgezogenen »französischen Fenstern« (nach innen öffnende Tür, aber ohne Balkon) und eisernen Brüstungen verliehen Haussmanns paradigmatische Architekturen Paris sein typisches Antlitz.
Ohne Widerstand geschah eine solch brachiale Umordnung eines jahrhundertelang gewachsenen Stadtkörpers freilich nicht. Es gab bereits damals denkmalpflegerische Einwände, denn viel wertvolle Bausubstanz ging verloren (und wurde dank der bereits erfundenen Fotografie zumindest dokumentiert). Auch mussten viele Einwohner ihre alten Häuser verlassen, wurden umgesiedelt und Opfer von Grundstücksspekulationen. Andere erhofften sich sehnlichst die Enteignung, um eine hohe Entschädigungszahlung zu erhalten. In die Häuser der neuen großzügigen Straßen zogen sogleich viele Künstler der Stadt: Edouard Manet, Claude Monet, Gustave Caillebotte, Stéphane Mallarmé. Auch Marcel Proust lebte in einem typischen Haussmannschen Bau am Boulevard Malesherbes. Hier stand sein Bett, das er kaum verließ und in dem er mit »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« Weltliteratur schrieb.
1871 verlor Frankreich den Deutsch-Französischen Krieg, Napoleon III. dankte ab. Damit war auch die Zeit des Präfekts Haussmann vorbei. Man beschuldigte ihn, sich bei den Baumaßnahmen bereichert zu haben. Was blieb, war das unverwechselbare Gepräge der neuen Großstadt Paris, das architektonisch in die ganze Welt ausstrahlte. Niemand zuvor (außer den Römern) hatte derart stringent ein so komplexes urbanes Bauvorhaben innerhalb dreier Jahrzehnte umgesetzt. Mussolini ließ später die Via della Conciliazione von Tiber zum Petersplatz »schlagen«, Hitler begann mit ersten Abrissen für gewaltige Neuanlagen in Haussmannscher Manier in Berlin und hätte den französischen Baron noch übertrumpft.
Vor allem die Impressionisten hielten das neue Gesicht der Großstadt im Bild fest. Das Einfangen von luziden wie verwaschenen Lichtstimmungen war ihnen nicht nur in freier Natur, sondern dank diverser Lichteffekte der Städte auch in den neuen Straßen von Paris künstlerisches Ziel. Der neue Stadtraum war der Gegenstand, an dem sich die Impressionisten beweisen konnten und etwa Claude Monet seinen selbst formulierten Anspruch zweifellos einlöste: »Ich will das Unerreichbare. Andere Künstler malen eine Brücke, ein Haus, ein Boot und das wars. Ich dagegen will die Luft malen, die die Brücke, das Haus, das Boot umgibt, die Schönheit der Luft, die diese Objekte umgibt und das ist nicht Unmögliches.«