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Johannes Vermeer in Dresden! Ein Glanzpunkt in der sächsischen Museumsgeschichte

Johannes Vermeer,
Frau mit derWaage, 1662-1665, Öl auf Leinwand, 39,7 x 35,5 cm
© Washington, National Gallery of Art, Widener Collection

Nach Dresden fährt man gern. In den Kunstsammlungen der Stadt ist immer etwas los. Damit meine ich natürlich nicht diesen brutalen Raub im Grünen Gewölbe im November 2019, wobei die Kunde, dass nun auch der letzte der Gauner gefasst wurde, große allgemeine Genugtuung erfüllt. Nein, ich meine, was die schon über Jahrhunderte in den Museen liegenden Schätze immer wieder Neues bieten. Da taucht aus den Tiefen des Pillnitzer Schlosses ein vermisst geglaubter echter Bernini auf und jetzt erfährt die ganze Welt, dass das Dresdner brieflesende Mädchen von Johannes Vermeer nie ganz vollständig war, ein Cubido fehlte über all die Jahre in diesem Bild. Bekannt war es schon seit 1979, aber dass nicht Johannes Vermeer selbst, sondern ein Unbekannter diese Figur hat verschwinden lassen, vor allem, dass sie jetzt wieder da ist, das ist das sensationelle Neue. 

Johannes Vermeer,
Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657-59
Vor der Restaurierung
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Hans-Peter Klut, Elke Estel

Nachdem in einer Expertenkommission 2018 die Entscheidung gefallen war, die Übermalung zu entfernen, erbrachten neue Untersuchungen der entfernten Pigmente, dass diese nicht von Vermeers Farbpalette stammen konnten, sondern um 1700, also Jahre nach seinem Tod, aufgebracht wurden. Für den Restaurator Christoph Schölzel begann eine langwierige und schwierige Aufgabe. Millimeter für Millimeter trug er die dünne Schicht unter dem Mikroskop meisterhaft ab, sicher begeistert über die schrittweise Wiedergeburt des kleinen Cubido, aber auch ein wenig erzürnt über den unbekannten (Über)maler. 

Johannes Vermeer,
Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657-59
Etappen der Restaurierung
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Aber es ist geschafft!
Mit schwarzem Ebenholz nach historischem Vorbild gerahmt strahlt uns das nun komplette, gesäuberte, in allem wieder hergerichtete Gemälde an. 

Und es ist der Star in der Ausstellung Johannes Vermeer. Vom Innehalten! 

Johannes Vermeer,
Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657-59
Zustand nach der Restaurierung
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Das im Profil dargestellte brieflesende Mädchen spiegelt ihr Gesicht in den Scheiben des gefelderten, weit geöffneten Fensters, ihr Blick ruht auf einem langen mit beiden Händen gehaltenen Brief. Sie ist mit einem aus Brokat gefertigtem Oberteil bekleidet, das an den Aussenseiten des Oberarmes und an den Rändern mit schwarzen Samtstreifen geschmückt ist. Ein weiter schwarzer Rock vervollständigt das Kostüm. Auffällig sind die auf den Samt gestickten Goldfäden, die Johannes Vermeer in seiner typischen, in die Zukunft weisenden Tüpfelung aufgebracht hat. Auf einem mit einem Teppich bedeckten breiten Tisch steht eine mit Äpfeln und Pfirsichen gefüllte Schale. So man will, erinnern die Äpfel an Evas Sündenfall, deuten die leicht geröteten Wangen der Briefleserin und das weit offene Fenster, Freizügigkeit und Kontakt versprechend auf eine außereheliche Liebesbeziehung hin, die in dem Brief in Worte gefasst ist?! So dachten wir vielleicht bisher.

Damit ist jetzt Schluß! 

Der „wiedergeborene“, beflügelte, mit Pfeil und Bogen ausgerüstete, jegliche amouröse Maskierung verwerfende Cubido an der Rückwand des Zimmers läßt keine Zweifel mehr daran, dass sich das brieflesende Mädchen ganz natürlich und aufrichtig verliebt hat. Die Bildaussage ist eine gewaltig andere, jetzt die richtige, so wie Johannes Vermeer es beabsichtigte.  

Und doch bleiben Fragen! 

Johannes Vermeer hat dieses Bild zwischen 1657 und 1659 gemalt, es gehört zu seinen Frühwerken. Auftraggeber für seine Bilder waren in der Regel Förderer und Mäzene, so u.a. der Delfter Druckereibesitzer Jacob Abrahams Dissius (1633-1695), dem nachweislich 19, vielleicht sogar 21 Bilder „Vermeers“ gehörten. Sie alle wurde 1696 in Amsterdam versteigert. Wie kam „unser“ Bild nach Frankreich, wie später in die Hände eines nicht näher bekannten Prinzen? 1742 erwarb es Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen bereits mit der übermalten Cubido-Figur von diesem Prinzen. Er kaufte es mit anderen Bildern, mehr oder weniger als Beigabe, deklariert als ein Rembrandt. Warum wurde der Cubido um 1700 übermalt? Auch wenn es in dieser Zeit nicht selten war, das so etwas geschah, muss es einen Grund dafür gegeben haben. Die Dresdner Kunsthistoriker vermuten, dass der Sammlungsverwalter des Prinzen, vielleicht selbst ein Maler oder Restaurator, sich mit dieser Tat empfehlen wollte (Monopol vom 24.08.2021). Vielleicht erschien dem damaligen Besitzer (so wie dem Autor dieser Zeilen) das Bild mit dem Cubido, der ja eine beträchtliche Größe hat, zu überladen und er wollte es so vereinfachen, klarer machen, oder wollte die Bildaussage verändern?  Um 1700 herrschten in Paris strengste Winter mit bis zu -26 Grad, Hochwasser komplizierte das Leben. Vielleicht wollte der Besitzer, wir wissen nicht, ob es um 1700 schon der Prinz war, in der herrschenden Hungersnot das Bild verkaufen und der Käufer wollte es nur ohne den nackten Jüngling?
All das wissen wir nicht!

Johannes Vermeer,
Mädchen mit dem Perlenhalsband, um 1662-1665
Öl auf Leinwand, 56,1 x 47,4 cm
© Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Foto: Christoph Schmidt

Johannes Vermeer hat in vielen seiner Bilder Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Mit bestechend harmonischem Licht brachte er die meist im heimischen Milieu angesiedelten Szenen auf die Leinwand. Fast stillebenhaft ruhen sie in sich, lassen den Betrachter in Gedanken verweilen und strahlen „Ernst und Zeitlosigkeit“ aus (Petra Bosetti, art, 11/95, S. 116). Mit der Ruhe im Alltäglichen bezaubert Vermeer an weiteren Schauplätzen. In Dresden zeigen es die „Briefleserin in Blau“, die „Dienstmagd mit Milchkrug“ oder die „Frau mit Waage“. Diesen und weiteren ist gemeinsam, dass Johannes Vermeer seine Bildaussagen in der Regel mit Wandbildern (oft anderer Maler) oder Landkarten unterstützte, lenkte, Hinweise im Verborgenen (Moral, Stellung der Frau, Eitelkeit) damit zu Themen machte.

Johannes Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1663
Öl auf Leinwand, 46,5 x 39 cm
© Rijksmuseum, Amsterdam, Foto: Carola van Wijk

Das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ weist mit einer Reihe weiterer Bilder daraufhin, dass im :

„„17. Jahrhundert in keinem europäischen Land der Bevölkerungsanteil derer, die lesen und schreiben konnten so hoch wie in den protestantischen Nordprovinzen der Niederlande war. Nirgends sonst wurden im 17. Jahrhundert so viele Bücher gedruckt (in den nördlichen Niederlanden mehr als in allen anderen Ländern Europas zusammen). … Die Holländer waren nicht nur eine Nation von unermüdlichen Lesern, sie waren auch ein Volk von manischen Briefschreibern.“
Jörg Restorff »Niederländische Malerei des Goldenen Zeitalters von Rembrandt bis Vermeer«
Schirn Kunsthalle, Frankfurt/M., 25.9.1993 – 2.1.1994

Vermeer hat es festgehalten: die „Sitzende Virginalspielerin“, die „Briefleserin in Blau“, „Die Briefschreiberin“, 2x „Briefschreiberin und Dienstmagd“ von 1666/67 und 1670/71, „Der Liebesbrief“ und natürlich unser „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“… und die „Die unterbrochene Musikstunde“

Johannes Vermeer,
Die unterbrochene Musikstunde, 1660/61
© The Frick Collection, Foto: Michael Bodycomb

Johannes Vermeer ist neben Rembrandt und Frans Hals der wichtigste niederländische Maler des 17. Jahrhunderts, des „Goldenen“ der Holländer. Über sein Leben wissen wir allerdings nur wenig. 1632 geboren, findet man die Notiz seiner Hochzeit mit Catharina Bolnes am 20. April 1653 und im gleichen Jahr wurde er in die Delfter Malergilde aufgenommen, dessen Vorstand er später zweimal wurde. Seine Produktivität war vergleichsweise niedrig, es sollen pro Jahr nicht viel mehr als 2 Gemälde gewesen sein, so dass der relative Wohlstand seiner Schwiegermutter Maria Thins helfen musste. Kinderreich, aber verarmt starb er mit nur 43 Jahren in Delft, wo er in der Oude Kerk zu Delft begraben wurde.

Gerard Houckgeest,
Die Oude Kerk in Delft, 1654
Öl auf Holz, 49 x 41 cm, Amsterdam, Rijksmuseum
© Amsterdam, Rijksmuseum, Foto: Frans Pegt

Um das Bild „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ scharen sich in der aktuellen Dresdner Ausstellung 8 Leihgaben weiterer Vermeer-Bilder, das in Dresden beheimatete „Bei der Kupplerin“ und 48 weitere Bilder niederländischer Maler. 10 Vermeer-Bilder sind fast ein Drittel seiner insgesamt von ihm geschaffenen rund 35 Bilder. Eine Sensation in Museumskreisen, lediglich die 1995/96 in der Washingtoner National Gallery und Haager Mauritshuis gezeigte Schau von 20 „Vermeers“ übertraf diese Zahl, aber auch damals schwärmte der Washingtoner Direktor Earl A. Power von einem „Einmal-im-Leben-Ereignis“ (art, 11/95, S. 116). Jetzt haben wir es in Dresden. Wie gesagt, Dresden ist jederzeit für eine Sensation gut. Die nächste, die ich mir wünsche und erwarte, wäre das Wiederauftauchen aller gestohlenen Preziosen des Grünen Gewölbes.
Man muss daran glauben!

„Johannes Vermeer. Vom Innehalten“
10.09.2021 – 02.01.2022
Ausstellungsort Zwinger, Alte Meister

Öffnungszeiten
10 – 18:00 Uhr, Freitag 10 – 20:00 Uhr,
Montag geschlossen
Veranstaltungsprogramm und Führungen unter www.skd.museum/vermeer

Es erscheint im Sandstein-Verlag Dresden (https://verlag.sandstein.de/) ein Katalog zur Ausstellung
Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden; Stephan Koja
256 Seiten, etwa 300 meist farbige Abb.
29 x 24 cm, Festeinband
Der Subskriptionspreis von 34 € gilt bis 9. September 2021.
Danach kostet der Band 48 €.

Erscheinungsdatum 10. September 2021