„TOYEN 1902-1980“ – eine Künstlerin von Weltrang. Monografie des HIRMER-Verlages, München, herausgegeben von Annabelle Görgen-Lammers, Annie Le Brun und Anna Pravdova für die gleichnamige Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, 2021.
Auf 360 Seiten ist ein monumentales Werk zur Persönlichkeit, zum Werk und zum Leben der Ausnahmekünstlerin Toyen (eigentlich Marie Čermínová) entstanden, sehr persönliche Beiträge zum Surrealismus und zum historischen Hintergrund runden das Bild ab. Neben den Herausgeberinnen beteiligten sich weitere 18 Autorinnen und Autoren an dieser Arbeit. Wenn auch im ersten Moment die relativ eng mit reichlich Text bedruckten Seiten alle Aufmerksamkeit erfordern, so machen die sehr interessant geschriebenen Beiträge, aufgelockert durch viele Zitate von Freunden und Kollegen Toyens das Lesen schnell zur Freude. Toyen als gebürtige Pragerin führt uns in die künstlerische Avantgarde der tschechoslowakischen 20iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die in dieser Breite, Agilität, ihren Besonderheiten und ihrer Standhaftigkeit so umfassend kaum bisher beschrieben wurde. Es ist eine Fundgrube junger europäischer Kunstgeschichte.
Die Monografie zeigt sich in der üblichen Buchgröße bekannter Ausstellungskataloge, wird von einem Hardcover mit einem großen Porträt Toyens auf der Vorderseite gebunden und präsentiert in hervorragender Weise 280 Abbildungen in Farbe, die einen umfassenden Einblick in das malerische Schaffen Toyens geben. Die Themen gliedern sich in 5 chronologisch aufeinander folgende Zeitbereiche von 1919 bis 1980. Das Besondere ist, vor jedem Kapitel überraschen den Leser, wie in einem Fotoalbum, schwarze Seiten mit persönlichen Fotografien von Toyen, von ihren vielen Reisen, von Freunden, von Ausstellungen oder Titelseiten gestalteter Kataloge. Alle Abbildungen sind beschriftet, wichtige geschichtliche Daten sind eingepflegt. Die anschließenden Texte sind am Ende alle mit einer umfangreichen Literaturangabe untermauert.
Jung ist Marie Čermínová (Toyen) als sie schon mit 16 Jahren das Elternhaus verläßt und kommunistischen, ja anarchistischen Gedanken nachhängt. Noch wichtiger ist ihr und das bleibt ihr Motto ein Leben lang: frei und unabhängig zu sein. Sie ist talentiert, spürt das auf einer Prager Kunstgewerbeschule und wird 1923 Mitglied der tschechoslowakischen Avantgarde-Bewegung „Devětsil“, wo sich neben Malern vor allem auch gleichgesinnte Dichter versammeln. Sie nennt sich ab jetzt „Toyen“ und malt. Für die Wahl des Namens „Toyen“ gibt es mehrere Erklärungsversuche, vielleicht stand der französische Name für den Bürger „Citoyen“ Pate. Anfangs sind in ihrer Malerei kubistische Einflüsse zu beobachten, aber auch Anklänge primitiver Malerei, die den in Prager Avantgarde-Kreisen (Karel Teige, Vitezslav Nezval) gepriesenen POETISMUS huldigen, der „aus dem Leben einen großartigen Vergnügungsbetrieb machen (will) …“ ( Kat. S.49). Eine enge Freundschaft zu dem Maler Jindrich Styrsky, Reisen nach Paris in das Zentrum moderner Malerei leiten in der Mitte der zwanziger Jahre einen Stilwechsel ein. 3 Jahre bleiben beide schließlich dort und gründen eine eigene Bewegung, den ARTIFIZIALISMUS. Mit ihm distanzieren sie sich noch deutlich vom Surrealismus. In ihrem Manifest beschreiben sie ihn u.a. so:
Voraussetzung dafür ist die Identität von Dichtung und Malerei. 8 Jahre hielten die beiden Künstler an dieser ihrer Malweise fest, die durch sinnliches Wahrnehmen tiefes Empfinden auszulösen vermochte. Die Werke „Förde“ (1928 oder „Im Park“ (1929) stehen dafür, zeigen aber auch, dass der Weg zu surrealistischem Denken nicht mehr weit war.
Die erste Möglichkeit, einen Überblick über surrealistische Werke zu erhalten, bot 1932 die Ausstellung „Poesie“ in Prag, an der bedeutende ausländische Künstler teilnahmen. Schon 2 Jahre später gründete sich in enger Kooperation mit den französischen die tschechoslowakische Gruppe der Surrealisten. Zu den Erstunterzeichnern des Manifestes gehörte Toyen. Enge freundschaftliche Beziehungen zu den französischen Surrealisten, gegenseitige Besuche, gemeinsame Ausstellungen vor allem mit dem an der Spitze der Bewegung stehenden Andre Breton (1896 – 1966) und seinen Kollegen schlossen sich über Jahre an. Bretons Idee, verfasst in 2 Manifesten 1924 und 1930, lagen folgende Ideen zugrunde:
… und das Unbewußte zum Ausdruck zu bringen. Mystisches, Rätselhaftes, im Traum geborenes belebte fortan auch Toyens Leinwände. Gedankenversunken kann man ihren Konturen der „Magnetischen Frau“ (1934), den „Stimmen des Waldes I und II“ (1934) oder ihrer „leeren“ „Schlafenden“ (1937) in die Unendlichkeit folgen. Ausführlich werden im Katalog die im Surrealismus diskutierten Bildphenomene wie die des Objektes, der Metaphormosen, Erscheinungen zwischen Faltungen und Rissen im Raum und im Bild erklärt.
1939 – die Annexion der Tschechoslowakei und der 2. Weltkrieg, Toyens Bilder wurden verboten, Arbeiten war nur im Untergrund möglich. Bereits die heraufziehende Gefahr fand in Toyens Kunst breite Beachtung: „Entsetzen“ von 1937, Finger von 5 Händen, die die Oberkante eines hohen Zaunes umfassen, gehören zu Personen, die sich in einem mystischen, unheimlichen, undefinierbaren Raum befinden, Entsetzen!. „Der Schießplatz“ (1939) und „Verstecke dich, Krieg“ (1944/46) sprechen für ihr Engagement. Fabrice Hergott schreibt in ihrem Beitrag:
Eine der Verwandlungen war die Errichtung eines kommunistischen Regimes, einer Diktatur in der CSSR am Ende des Krieges. Auch sie verbot eine freie Kunst. Toyen und ihr Künstlerfreund Jindrich Heisler verliesen ihr Vaterland nach Frankreich – für immer. Die Gruppe surrealistischer Künstler wurde ihre neue Heimat. Über den Tod Andre Bretons 1966 hinaus blieb Toyen der surrealistischen Kunst im Malen, ihrer Kommunikation, in ihrer Wehrhaftigkeit treu.
Einen nicht unwesentlichen Teil ihres Schaffens widmete Toyen in all ihren Lebensphasen erotischen Themen, oft im kreativen Dialog mit literarischen Vorgaben. Marquis de Sade „Justina“, „Die sündigen Klosterschwestern“ Aretinos oder die „Eroticka revue“ Jindrich Styrskys haben sicher für so manche Diskussion in kleinbürgerlichen Kreisen gesorgt – aber das war Toyen! Frei im Denken und frei im Tun. Eine noch viel tiefsinnigere und zum Träumen animierende Erotik schuf sie mit den großartigen Gemälden in Öl, mit „Die sieben gezogenen Schwerter“ (1957) oder dem „Paravent“ von (1966).
Der Lebensweg Toyens beweist, freie Kunst ist nur in der Freiheit möglich, alles Restriktive, Ideen- und Meinungsvielfalt einschränkende, vereitelt die besten Gedanken, das ist bis heute so. Surrealisten verbanden ihre Kunst mit Prinzipien ihrer Lebenshaltung, Vor allem Andre Breton bekannte sich in seinem 2. Manifest zum dialektischen Materialismus, zum Marxismus und zur kommunistischen Partei Frankreichs, was nicht von allen mit getragen wurde, zu Diskussionen und Austritten führte. Alle distanzierten sich aber von der Errichtung einer kommunistischen Diktatur als dem nächsten Schritt einer solchen Parteinahme.
Wie aktuell sich doch dieser Katalog liest.
Toyen war eine faszinierende Frau! Charakterstark, kompromisslos blieb sie ihren Prinzipen, Freiheit und Freundschaft, ein Leben lang treu. Sie war stark, so stark, dass sie ihren jüdischen Freund in der Zeit der deutschen Besatzung in ihrer Wohnung versteckte. Eher zurückhaltend, zuhörend und abwägend dominierte sie die Diskussionsrunden ihrer künstlerischen Freunde. Und man staune, „sie lehnte es ab, wenn sie von sich sprach, eine weibliche Endung zu verwenden, um ihre menschliche und künstlerische Gleichberechtigung geltend zu machen“ (Kat. S. 44)!
Faszinierend hat sie auch auf die Männer gewirkt. Schon als junge Frau lagen ihr die Protagonisten des Devetsil zu Füßen, Paul Eluard warb um sie, lebenslang fühlten sich kreative Männer zu ihr hingezogen, mit denen sie eine intensive schöpferische Künstlerfreundschaft einging, Jindrich Styrsky (1899 – 1942), Jindrich Heisler (1914 – 1953), Benjamin Peret (1899 – 1959), Georges Goldfayn (geb. 1933) und Radovan Ivsic (1921 – 2009). Charakter, Charisma und Charme (dazu gehörte auch der eigene, modebewußte Stil) formten eine große, beispielgebende weibliche Persönlichkeit, TOYEN! Und so fällt mir nur Louis Aragons berühmter Ausspruch ein: „Die Frau ist die Zukunft des Mannes/Menschen“).