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»Die Erste Russische Kunstausstellung« in Berlin

Im Jahr 1922 präsentieren sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der russischen Avantgarde in den Räumlichkeiten der Galerie van Diemen & Co in Berlin erstmalig einem größeren westeuropäischen Publikum. Auch Olga Rosanowa, die für sisterMAG No. 53 titelgebend ist, war mit ihren künstlerischen Arbeiten in der Schau vertreten, auch wenn sie bereits 1918 in jungem Alter verstorben war. Heutzutage ist die Bedeutung der russischen Avantgarde nicht mehr anzuzweifeln und die Kunst ein fester Bestandteil des kunsthistorischen Kanons. Zu dieser Entwicklung trug die Schau von 1922 einen großen Anteil bei. Lest hier den Artikel von sisterMAG-Kunstliebhaberin Caro.

»Die Erste Russische Kunstausstellung« in Berlin

Die russische Avantgarde präsentiert sich 1922 erstmalig in Westeuropa

»Schöpferische Tätigkeit ist Wandel. Es ist daher unmöglich schöpferisch tätig zu sein, indem man bereits bestehende Formen verwendet.«* – Viktor Schklowski, 1919

Der Begriff der »Avantgarde« bezieht sich in der Kunstgeschichte auf alle künstlerischen Strömungen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind. Kubismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Surrealismus – um an dieser Stelle nur einige zu nennen. Auch die Künstlerinnen und Künstler der allgemein formulierten »russischen Avantgarde« sind Teil des Kanons. Etwa zwischen 1905 und 1934 vereinten und bündelten Kunstschaffende, vor allem in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, ihre künstlerischen Kräfte in der Bildenden Kunst, Literatur, Musik und im Theater, von westlichen Einflüssen und östlichen Traditionen geprägt.

Ein einschneidendes Erlebnis in der Entwicklung war dabei die Oktoberrevolution von 1917, die schleichend zu einer zunehmenden Politisierung der Diskussion über Kunst durch die Bolschewiki führte, die der avantgardistischen Entwicklung jedoch keinen Abbruch tat. Selbst die Sowjetherrschaft ab 1922 konnte das Experimentieren der Kunstszene zunächst nicht unterbinden – im Gegenteil: Es schien, als hätte sie das Schöpferische im Geiste noch mehr angeregt. Mit der Machtübernahme durch Stalin jedoch ließ sich der künstlerische Anspruch der Avantgardisten allmählich nicht mehr mit den politischen Forderungen nach einer funktionalen Kunst vereinbaren, was die Geburtsstunde des späteren Sozialistischen Realismus war.

Was alle künstlerischen Positionen der russischen Avantgarde vereinte, wenngleich sie stilistisch auch sehr unterschiedlich waren, war die »Eingliederung der Kunst in die tägliche Welt« und der Wunsch, die eigene künstlerische Utopie zu verwirklichen.

Einem größeren westeuropäischen Publikum wurde das umfassende Œuvre der russischen Avantgarde erstmalig im Oktober 1922 in Berlin zugänglich gemacht. Damals jubelnd gefeiert, geriet die Ausstellung für längere Zeit in Vergessenheit. Mittlerweile ist ihre Bedeutung unbestritten und das künstlerische Schaffen der Russen fester Bestandteil der modernen Kunstgeschichte.
In den Räumlichkeiten der Galerie van Diemen & Co, die sich bis zur Enteignung durch die Nationalsozialisten 1935 Unter den Linden 21*¹ nahe der Russischen Botschaft befanden, organisierten die Künstler David Sterenberg, D. Marianov, Nathan Altmann, Naum Gabo und Friedrich A. Lutz, Direktor der Galerie, eine Schau mit über 700 Kunstwerken von 167 Künstlerinnen und Künstlern. Sie wurde als kommerziell geplant, um alle Erlöse an Hilfsorganisationen, die Hungernde in Russland unterstützen, zu spenden.

Die rund 15.000 Besucherinnen und Besucher erwartete ein vielschichtiger Überblick über die russische Kunst seit 1905 mit Gemälden, Grafiken, Skulpturen, Architekturmodellen, Bühnenbildern und Porzellanarbeiten.

»Was wir beabsichtigen, ist, eine Skizze zu geben, die Europa das neue Rußland vorstellen soll. Um dabei den Werdegang und die Entwicklung der russischen Kunst verständlich zu machen, müssen wir sowohl ganze Strömungen charakterisieren, als auch einzelne Künstler hervorheben.« *² – Einführung im Ausstellungskatalog, 1922

Ein kleiner Gang durch die Ausstellung:

Beginnend mit der Gruppierung »Peredwischniki« (»Wanderer«), die sich der realistischen Malerei verschrieb und Szenen aus dem russischen Bauernleben zeigte, ging es weiter mit den weitgehend unbekannten Vertretern des russischen Impressionismus, die mit der populären europäischen Bewegung eher wenig verbunden waren. Zarte und stimmungsvolle Landschaften, z.B. von Konstantin Korowin, wurden hier gezeigt. Als nächste Künstlergruppe präsentierte sich »Karo-Bube« mit Arbeiten, die sich stilistisch am Spät-Impressionismus sowie Kubismus orientierte. Die Expressionisten schlossen daran an, gefolgt vom Kubismus, der sich eigenständig zur europäischen Strömung in Russland entwickelte. Expressionistische wie kubistische Positionen zählen zum Bereich der abstrakten Malerei und ebneten den Weg hin zur gegenstandsloser werdenden Kunst, die in der Ausstellung darauffolgend zu sehen war. Bilder des »Suprematismus« (altlateinisch supremus, »Der Höchste«) gehen zurück auf das Wesen von einfachen geometrischen Formen, die mit ihren Gesetzen die Wege und Möglichkeiten für eine neue russische Künstlergeneration vervielfachten. Die Malerin Olga Wladimirowna Rosanowa, die zum Zeitpunkt der Ausstellung bereits verstorben war, wurde hier mit 14 Arbeiten, z.B. mit den Titeln »Suprematische Dekoration«, »Komposition« und »Figur«, gemeinsam mit Kasimir Malewitsch, der zu den bekanntesten Künstlern der Schau gehörte, El Lissitzky und Alexander Rodschenko gezeigt. Auch Wassily Kandinsky, ebenfalls ein populärer Vertreter, und Wladimir Tatlin waren in diesem Bereich der Galerieräumlichkeiten zu sehen. Tatlin stellte dabei den Übergang zur russischen Produktionskunst dar. Eine weitere Abzweigung der gegenstandslosen Kunst bildet der Konstruktivismus, der in der Ausstellung u.a. durch Naum Gabos Plastiken vertreten wurde. Sie stützen sich auf diagonal gekreuzte Flächen einer Grundform als räumliche Konstruktion. Ein bedeutendes Werk dabei ist z.B. »Konstruktiver Torso«, das heute zu den Hauptwerken in der Sammlung der Berlinischen Galerie zählt. Gabo selbst war für die drei Räume der Ausstellung zuständig, in denen auch seine eigenen Arbeiten zu sehen waren – sie machten die Schau berühmt. Neben seinen Arbeiten waren hier auch zahlreiche Werke der Kunstschulen aus Bauern- und Arbeiterkreisen sowie der Staatsporzellan- und Graviersteinfabrik ausgestellt.

Den Abschluss der Schau bildete die Theaterabteilung, die mit Skizzen, Entwürfen zu russischen Theaterinszenierungen und Plakaten bestückt war.

Die Ausstellung wurde am 15. Oktober 1922 feierlich eröffnet und ihre Laufzeit bis Ende des Jahres verlängert. Im Frühling 1923 wanderte sie weiter ins Stedelijk Museum in Amsterdam.

»In Berlin jagt eine Ausstellung die andere: Verschlungene Formen und schreiende Farben. In dieses bunte Durcheinander brachten die Russen wieder die Urquellen der Farben und die gerade Linie der Reinheit und Kraft.«*³ – Lajos Kassák, 1922

  • * Nakov, Andrei: Russische Avantgarde, Weber Verlag, Genf 1984, S. 28.
  • *¹ Heute befindet sich hier die Theaterkasse der Komischen Oper Berlin.
  • *² Galerie van Diemen & Co: Erste russische Kunstausstellung, König Verlag, Berlin 1922, S. 10.
  • *³ Kassák, Lajos: Zur russischen Ausstellung, in: Berliner Begegnungen. Ausländische Künstler in Berlin 1918-1933, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 78.