»Das Mädchen mit dem Perlenohrring« – Eine Inspiration
Das Gemälde »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« war kurioserweise zur Zeit seines Entstehens gar nicht so bekannt; mittlerweile ist es weltberühmt. Wir möchten euch zeigen, wie kulturelle Prozesse der Aneignung und Adaptation das Gemälde aus dem 17. Jahrhundert zu einem beliebten Topos in der zeitgenössischen Populärkultur gemacht haben. Lest im sisterMAG den ganzen Text von Autorin Barbara Eichhammer.
- Text: Barbara Eichhammer
»Das Mädchen mit dem Perlenohrring« – Eine große Inspiration
»Das Mädchen mit dem Perlenohrring« war kurioserweise zur Zeit seines Entstehens gar nicht so bekannt; mittlerweile ist es so weltberühmt, dass es das Bild gar nach Hollywood geschafft hat. Wir möchten euch zeigen, wie das Gemälde aus dem 17. Jahrhundert in der zeitgenössischen Populärkultur rezipiert wird. Malerei als Thema in Roman und Film eröffnet dabei nicht nur Fragen nach Intermedialität, sondern beschreibt auch eine mediale Vorgeschichte der Kinematographie. Besonders außergewöhnlich: die Rolle des titelgebenden Mädchens, vor deren Folie Fragen nach weiblichem Musentum, genderspezifischen Mythen des Künstlergenies und sozioökonomische Kontexte neu verhandelt werden können.
Das Gemälde (Jan Vermeer, um 1665)
»Das Mädchen mit dem Perlenohrring« (um 1665) ist das berühmteste Gemälde Jan Vermeers (1632 – 1675). Der Delfter Künstler gehört zu den bedeutendsten Malern des 17. Jahrhunderts, dem sogenannten »Goldenen Zeitalter« der Niederlande. Seine barocken Porträts von Frauen und Mädchen zeichnen sich durch eine Darstellung des Häuslichen, Privaten und scheinbar Alltäglichen aus. Meist zeigte Vermeer seine Modelle bei stillen Tätigkeiten wie Briefe lesen, Schlafen oder Malen. »Die Mona Lisa des Nordens«, wie das Gemälde auch genannt wird, präsentiert ein Mädchen mit einem blauen Turban und dem markanten übergroßen Ohrring vor einem dunklen Hintergrund. Das Bild wirkt geradezu modern, weil das Mädchen mit dem Bildbetrachter zu interagieren scheint: Es ist aus unmittelbarer Nähe gemalt und blickt den Beobachter direkt an; sein Mund ist leicht geöffnet. Bemerkenswert dabei ist Vermeers Umgang mit Licht: Er konnte Konturen allein mit Licht und Schatten erzeugen. Seien es die Glanzeffekte auf den Lippen des Mädchens oder der Schimmer der titelgebenden Perle: Vermeer konnte mit seiner natürlichen Lichttechnik unbelebte Objekte scheinbar zum Leben erwecken. Der Turban und die Perle wurden von Kunsthistorikern als Zeichen des Orientalismus gelesen. Die Kleidung spiegelt das damalige Interesse Hollands an der orientalischen Kultur nach den Türkenkriegen wider; Turbane waren beliebte Modeaccessoires im Barock. Das Gemälde lässt viele Fragen offen. Unbekannt ist, wer das Mädchen im Gemälde ist. Sie könnte ein bezahltes Modell, eine Auftragsarbeit oder eine Angestellte Vermeers gewesen sein. Eine Vermutung ist aber, dass das Bild vielmehr eine sogenannte Tronie (holländisch für »Kopf« oder »Gesichtsausdruck«) darstellt. In der niederländischen Malerei entwickelten sich Tronien zur eigenständigen Bildgattung. Dabei handelt es sich um porträtähnliche Charakterstudien, mit denen Künstler Allegorien oder Typen und keine bestimmten Menschen darstellen wollten. Umstritten ist übrigens auch, ob es sich bei dem Ohrschmuck tatsächlich um eine Perle handelt. Zu besichtigen ist das Ölgemälde heute im Mauritshuis in Den Haag. Weltweit berühmt wurde das Gemälde durch seine moderne Rezeption im 21. Jahrhundert.
Der Roman (Tracy Chevalier, 1999)
Delft, Holland, 17. Jahrhundert: Die amerikanische Autorin Tracy Chevalier entwirft in ihrem historischen Roman »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« (1999) eine fiktive Geschichte rund um das Geheimnis, wer sich hinter der Frau auf Jan Vermeers ikonischem Kunstwerk verbirgt. Der biographische Roman erfindet eine romantische Entstehungsgeschichte zu dem berühmten Gemälde: Die 16-jährige Magd Griet arbeitet im Haushalt des Malers und wird zum Modell für sein Perlenohrring-Bild. Dabei entdeckt sie auch ihr Talent für Kunst. Griet wird zu Vermeers Assistentin, sie mischt seine Farben und ordnet Gegenstände zu künstlerischen Werken. Unterdrücktes Begehren und eine heimliche Liebesgeschichte thematisieren auch Standesunterschiede zwischen Griet und Vermeer. So nimmt der Roman – wie ein Sittengemälde – Bezug auf die holländische Klassengesellschaft der Barockzeit und thematisiert den sozioökonomischen Kontext für (erfolgreiche) Malerei. Tatsächlich liegen nur wenig gesicherte Eckdaten über das Leben des niederländischen Malers vor. Tracy Chevalier versucht, diese biografischen Leerstellen zu füllen, indem sie die fiktiven Geschehnisse aus der weiblichen Sicht der Dienstmagd Griet entwirft. Chevalier schafft damit ein feministisches rewriting der Kunstgeschichte: Der Roman verhandelt den bekannten Mythos des männlichen Künstlers und seiner weiblichen Muse teils neu. Die gesellschaftlichen Verhältnisse konturierten meist bis ins 20. Jahrhundert eine dichotome, genderspezifische Kunstordnung: das Künstlergenie (männlich) versus die Muse (weiblich), das autonome Subjekt des Malers (aktiv) versus sein gemaltes Objekt (passiv). Diesmal gibt die Ich-Erzählung jedoch der weiblichen Muse eine Stimme und eine eigene aktive Perspektive, die sonst in der Kunstgeschichte oftmals verschwiegen, ausgelassen oder verdrängt wurde. Prominentes Beispiel hierfür wäre die französische Bildhauerin Camille Claudel (1864 – 1943). Ihr Talent wurde stets verheimlicht, auch wenn sie den berühmten Künstler Rodin inspirierte und selbst Kunstwerke von Bedeutung erschuf. Im Gegensatz dazu erscheint Griet im Roman nicht mehr nur als männliches Blickobjekt, das der Maler auf seine Leinwand zu bannen versucht, sondern als erzählendes Subjekt.
Der Film (Peter Webber, GB/L 2003)
Nach dem internationalen Bestsellererfolg von Tracy Chevaliers Roman verfilmte der britische Regisseur und Kunsthistoriker Peter Webber im Jahre 2003 »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« mit Scarlett Johansson und Colin Firth in den Hauptrollen. Im Gegensatz zum Roman wirft das Biopic aufgrund seiner eigenen medialen Beschaffenheit als Kinofilm spannende Fragen nach (Inter-)Medialität auf. Mit seiner kunstvollen Gestaltung der Bilder ist Peter Webbers Film nicht nur eine inhaltliche Adaptation der literarischen Vorlage, sondern auch eine visuelle Rekonstruktion von Vermeers Bilderwelt. Das alltägliche Geschehen im Haushalt zeigt sich im Film anhand von Szenen, die Vermeers Gemälde regelrecht verlebendigen. Kameramann Eduardo Serra erschafft so kurzzeitige tableaux vivants: Er komponiert sorgfältig ausgeleuchtete Filmbilder, die selbst wie Barockgemälde wirken. Dabei wird die Kamera kaum bewegt und ahmt die stillstehende Ästhetik der Malerei nach. Der Film zitiert anhand von Farben, Belichtung, Kostümen, Interieur und Figuren die holländische Feinmalerei der Delfter Schule: Objekte wie die Laute, das Cembalo oder das Atelier sind ikonographische Referenzen auf Vermeers Gemälde. Das Bild »Die Dame mit dem Perlenhalsband« wird beispielsweise direkt zum Handlungsgegenstand, Vermeers »Dienstmagd mit Milchkrug« dient als visuelle Vorlage für weibliche Filmfiguren. Die Künstlerbiografie thematisiert nicht nur die Genese des Perlenohrring-Kunstwerkes, sondern auch die Entstehungsgeschichte des filmischen Mediums. Vermeers nahezu fotografische Malerei wird schon in den ersten Minuten des Films in eine Linie mit fotografischen Medien und filmischer Lichttechnik gestellt. Tatsächlich dient Kameraleuten kein anderer Maler der Kunstgeschichte so oft als Inspiration für natürliches Licht wie Jan Vermeer. Nicht zufällig setzt der Film daher die Figur Jan Vermeers schon zu Beginn mit einer »Sehmaschine«, einer Camera Obscura, in Szene und macht den Künstler zum Pionier der heutigen Lichtgebung im Film. Das Kino erzählt hier selbstreflexiv seine eigene visuelle Vorgeschichte: vom unbewegten gemalten Bild hin zum bewegten Filmbild. Mit seiner detailgetreuen Rekonstruktion der Barockzeit reiht sich der Film in die seit den 1990er Jahren beliebte Tradition des Kostümdramas oder heritage films (engl. »heritage« = Erbe) ein. Beispiele hierfür wären »The King’s Speech« (2010) oder »Emma« (1996). Dass ausgerechnet Colin Firth die Hauptrolle des Künstlers einnimmt, kann als selbstreflexiver Verweis auf die heritage-film-Tradition gesehen werden. Schließlich wurde Firth weltberühmt mit seiner Rolle als paradigmatischer Kostümdramaheld Mr. Darcy in der BBC-Miniserie von Jane Austens »Pride and Prejudice« (1995), die für den weltweiten heritage-Boom verantwortlich war.
Lese- & Filmtipps
Gemälde und Maler sind eine Inspiration für eine Vielzahl von populären Werken. Wer noch mehr fiktive Geschichte über die Malerei lesen oder sehen möchte, sollte sich unsere folgenden Tipps nicht entgehen lassen:
Filme über Gemälde und Künstler
- Frida (2002) – (Link zu Youtube https://www.youtube.com/watch?v=uOUzQYqba4Y) Bewegendes Biopic über das Leben der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (Salma Hayek), deren Bilderwelten auf surreale und phantastische Weise wieder zum Leben erweckt werden. Endlich eine starke Künstlerin im Film! Selten wurden vor den 2000ern Biopics über weibliche Künstler gedreht.
- Mr Turner – Meister des Lichts (2014) (Link zu Youtube Trailer https://www.youtube.com/watch?v=HhqYGk0EfBw) – Spannende Filmbiografie über den berühmten englischen Maler J.W. Turner (Timothy Spall). Der Film erzählt, wie der exzentrische Turner mit seiner bahnbrechenden Maltechnik bereits Anfang des 19. Jahrhunderts den Impressionismus vorwegnahm. Für alle Fans britischer heritage-Filme!
- Die Frau in Gold (2015) – (Link zu YouTube https://www.youtube.com/watch?v=0FIpu172U_A) Ausgehend von Gustav Klimts berühmtem Gemälde »Goldene Adele« (1907) erzählt der Film die mutige Geschichte von Maria Altmann (Helen Mirren) und wie sie versucht, das Bild wieder in Familienbesitz zu holen. Denn ihre jüdische Familie wurde 1938 von den Nazis in Wien enteignet. Kunstvoll wird hier die Vergangenheit des Gemäldes mit filmischer Gegenwart verwoben.
Romane, inspiriert von Gemälden
- Philippe Besson – Nachsaison (2002) beschreibt die fiktive Geschichte hinter Edward Hoppers berühmtem Bild »Nighthawks«. Besson erzählt von der Frau im roten Kleid, die sich mit drei Männern in einer amerikanischen Bar befindet, und geht der Frage nach, was in der legendären Szene wohl geschehen sein mag.
- Gloria Goldreich – Die Tochter des Malers (2015) – Paris, 1935: Der berühmte Maler Marc Chagall malt am liebsten seine Tochter Ida. Als sie sich in den Studenten Michel verliebt, gefährdet dies die innige Beziehung zu ihrem Vater. Als dann Frankreich von den Deutschen besetzt wird, steht das Leben ihrer Familie auf dem Spiel. Einfühlsamer historischer Roman.
- Donna Tartt – Der Distelfink (2013) – Eine fiktive Geschichte über den 13-jährigen Theo Decker, dessen Leben nach einem Bombenanschlag auf das New Yorker Metropolitan Museum vom Gemälde »Der Distelfink« des niederländischen Malers Carel Fabritius geprägt wird. 2014 mit dem Pulitzer Preis für Belletristik ausgezeichnet. Spannend und berührend zugleich, wird 2019 verfilmt! Ein Must Read!