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Ein Tag am Meer: Die kleine Kulturgeschichte des Seebads

Sanftes Meeresrauschen, weißer Sandstrand und entspannende Ruhe jenseits des Berufsalltags – für viele Reisende sind das die perfekten Zutaten für einen gelungenen Sommerurlaub. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass wir zur Erholung ans Meer reisen? Ein kleiner Blick auf die Kulturgeschichte des Seebads Brighton an der Südküste Englands zeigt die »Erfindung« des Strandurlaubs als kulturelle Praxis.

Das 18. Jahrhundert: Das Seebad als Therapie

Die Idee zum Strandurlaub, wie wir ihn kennen, entstand trotz des wankelmütigen Wetters tatsächlich auf der britischen Insel. Die ersten Vorläufer des Seebads – die »Spa towns« – entwickelten sich in Großbritannien zu Beginn des 18. Jahrhundert, als Wanderärzte erstmalig nach römischem Vorbild die heilsame Wirkung des Meerwassers postulierten. 1750 brachte ein Dr. Richard Russell den Meer-Tourismus für die privilegierten Oberschichten nach Brighton, allerdings nicht zum Vergnügen: Das Seebaden diente als ärztlich verordnete Therapie gegen vielerlei Gebrechen. Nur widerwillig begaben sich die ersten Patienten zumeist nackt ins eiskalte Wasser des Ärmelkanals. Um die Schicklichkeit zu wahren, wurden Badekarren mit Pferden ins Meer gerollt, in denen sich die Adeligen unbeobachtet ausziehen und durch eine Luke im Boden ins Wasser gleiten konnten. Wirksam schien es zu sein: Das Baden im Meer etablierte sich (selbst im Winter) als beliebtes Ritual der britischen Aristokratie.

Schon bald entdeckten die Adeligen den Strand nicht nur als Ort der Heilkraft und Medizin, sondern auch als Ort des Vergnügens. So zog es den Prince Regent und späteren George IV 1783 in die Küstenstadt, um fortan im pompösen Royal Pavilion den Londoner Jetset für seine frivolen Feste nach Brighton zu holen. Angeblich frönte er dabei dem Glücksspiel, den Pferderennen und Mätressen. Anfang des 19. Jahrhunderts schwappte der Trend übrigens auch an die deutsche Küste: 1802 entstand mit Travemünde das erste Seebad an der westlichen Ostsee; 1813 gab es die ersten Badekarren in Haffkrug.

 

Das 19. Jahrhundert: Strandurlaub als Massenphänomen

 

Zum Massenphänomen für alle Gesellschaftsschichten entwickelte sich das Reisen ans Meer durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes. Mit der Eröffnung der Eisenbahnlinie London – Brighton im Jahre 1841 etablierte sich die Küstenstadt als eines der populärsten Seebäder. War das Reisen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund der hohen Kosten für Kutschfahrten fast ausschließlich der adeligen Elite vorbehalten und Marker für sozialen Status (etwa bei der Grand Tour), eröffnete nun die Eisenbahn als kostengünstiges Transportmittel auch der Arbeiter- und Mittelklasse Zugang zu Urlaubsreisen und Tagesausflügen. Die Fahrtzeiten ins »London-by-the-sea«, wie Brighton gern genannt wurde, verringerten sich dank der Zugfahrt drastisch. 

 

Das rief gewiefte Geschäftsleute auf den Plan: ­Thomas Cook bot als einer der ersten kommerziellen Reiseunternehmer in den 1850ern Pauschalreisen mit dem Zug in die Küstenstadt an. Bereits im Jahre 1860 zählte Brighton 250.000 Touristen pro Jahr, die mit der Eisenbahn anreisten. Weiterer Grund für den Besucherandrang: Im Zuge der Industrialisierung wurde auch die Freizeit der Arbeiter klarer reguliert. Mit fünf Urlaubstagen pro Jahr, der »wakes week« in den Sommermonaten, konnten sich nun Fabrikarbeiter aus dem Norden Englands ihren ersten Urlaub gönnen. Queen Victoria hatte übrigens aufgrund solch einer Demokratisierung des Reisens nur noch wenig für das Seebad Brighton übrig, da die Eisenbahn laut der Regentin »die falsche Art Leute« ans Meer brachte.

Die Viktorianische Bäderarchitektur

Strandpromenade, Liegestühle, Hotels und Seebrücken – das maritime Stadtbild Brightons zeugt heute noch von der viktorianischen Badekultur und den Entstehungszeiten des Strandurlaubs im 19. Jahrhundert. Die spezielle Bäderarchitektur wurde erschaffen, um die Bedürfnisse der Touristen nach Freizeitaktivitäten und Erholung zu stillen. Entlang der Promenade entstanden Grand Hotels, Tea Rooms, Souvenirläden, Theater und nicht zuletzt das ikonische Wahrzeichen des Seebades: die Piers. Auf filigranen Stelzen ragt der Steg des Brighton Piers bis heute mehr als einen Kilometer weit ins Meer. Beladen mit Eiscremeläden, Zuckerwatteständen und Karussells bot die Seebrücke nach ihrer Eröffnung 1899 unzählige Unterhaltungsmöglichkeiten. Nichts verband das Reisen ans Meer mehr mit Freizeitvergnügen als diese »pleasure palaces« – so nannte der zeitgenössische Journalist G.R. Sims die Piers. Die Architektur des Piers ermöglichte es den Menschen außerdem erstmals, das Wasser zu Fuß zu »erobern«. Der Strand wurde dabei zur Vergnügungszone erhoben – einem Grenzbereich zwischen Land (Kultur) und Meer (Natur), der einen Ausbruch aus dem Alltagsleben erlaubte.

Das 20. Jahrhundert bis heute

 

Bis in die 1930er hinein erlebten die britischen Seebäder wahre Glanzzeiten und wurden zum weltweiten Exportschlager: Zur Zeit des Britischen Weltreiches brachten die Briten den Meer-Tourismus auch an die Küsten ihrer ­Kolonialländer. Ab den 1960er Jahren zeichnete sich ein Niedergang der Badeorte ab, da sich viele Urlauber eine Flugreise in die Mittelmeerländer leisten konnten. 

 

Mittlerweile boomen die britischen Küstenstädte aber wieder. Brighton lockte 2015 über acht Millionen Besucher an seine Strände – wie auch mich. Bei meinem letzten Besuch bot der Brighton Pier nach wie vor spektakuläres Strandvergnügen auf dem Wasser. Ein bisschen Melancholie schwang bei meinem Anblick der Strandpromenade aber doch mit: Das morsche Stahl­skelett des 2003 abgebrannten West Piers ragte geradezu gespenstisch im Ärmelkanal auf. Als nostalgisches Relikt vergangener Glanzzeiten zeugt die Ruine heute von der möglichen Vergänglichkeit des Seebades. Im Sonnenuntergang spazierte ich die Promenade entlang und tat es meinen viktorianischen Vorgängern gleich: Ich genoss die unbeschwerten Sommerstunden. 

 

Brighton war nicht das einzige Seebad für Adlige und Reiche. Weitere Orte für die Badenden: Hastings, Scarborough, Margate, Ramsgate oder Bath.