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»Viktor&Rolf. Fashion Statements« Kunsthalle München – der Katalog

Es ist keine Mode für den täglichen Weg zur Arbeit. Nein, wer aber Herkömmliches vergessen kann, das Besondere, Verrückte und Extravagante liebt, Ironie und Witz vermag zu erkennen, geniale Ideen versteht und Mode auch als Kunst akzeptieren kann, der sollte nach dem 23. Februar diesen Jahres in die Münchner Kunsthalle gehen und sich den Fashion Statements von Victor&Rolf hingeben.

Oder!

Man kauft sich den umfangreichen, sehr informativen Katalog zur Ausstellung und hat das ganze Fest der Farben und Kreationen in vollem Umfang in seinen eigenen 4 Wänden zu Hause, gestaltet und gefasst vom Hirmer-Verlag, München in gewohnt brillanter Weise.

Meisterhaft und virtuos kreieren Viktor Horsting und Rolf Snoeren (V & R) seit über 30 Jahren mit ihren Ideen Vorschläge, wie eine avantgardistische Kleiderordnung unsere Gesellschaft beflügeln könnte. Dabei verwischen ihre Kreationen oft die Grenze zwischen Mode und Kunst.

Der Katalog trägt den gleichen Titel wie die Ausstellung. Auf 312 Seiten wird das umfangreiche Schaffen des Designer-Duos in Wort und Bild vorgestellt. Die Texte, die sich vor allem auf die zahlreichen Bildbeispiele beziehen, liegen in englischer und deutscher Sprache vor. Nach einem Vorwort des Direktors der Kunsthalle München, Roger Diederen, in dem er schon den großen Bogen der bearbeiteten Themen umreißt, ist besonders das abgedruckte Interview, das der Ausstellungskurator Thierry-Maxime Loriot mit Viktor&Rolf führte, aufschlußreich. Dieses Gespräch gibt einen umfassenden Einblick in das in manchem akrobatisch anmutende Schaffen der Designer. Die weiteren Texte ergänzen, vertiefen, schildern Details, wie es zu dieser oder jener Fashion gekommen ist. Da die Modenschauen und Shows dabei unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten erneut besprochen werden, sind Wiederholungen natürlich nicht zu vermeiden, erschweren aber leider das chronologische Verständnis beim Lesen. Im Besonderen wird auf den Dialog, den Viktor&Rolf mit der bildenden Kunst, der zeitgenössischen Kultur und der Modegeschichte in ihren Werken abbilden, eingegangen.

Die biografischen Angaben zu beiden Modeschöpfern sind sparsam. Am Ende des Kataloges liest man, dass beide 1969 in den Niederlanden geboren wurden. Sie studierten gemeinsam an der Art Academy in Arnhem. Bis heute haben sie 86 Haute Couture – und Ready-to wear-Kollektionen für Damen produziert. Sie leben heute in Amsterdam.

1992 gingen Viktor&Rolf nach Paris. Sie gewannen 1993 bei einem internationalem Festival für Mode und Photographie in Hyeres die ersten 3 Plätze. Ein guter Auftakt, dem aber Enttäuschung und mangelnde Resonanz folgten. Sie fühlten sich als Außenseiter, nutzten allerdings die Zeit, formten ihren Stil, beteiligten sich an Museumsausstellungen, Modemessen, „streikten“, suchten und fanden ihren Platz in dem schwierigen Umfeld der Modebranche. 1998 kreierten sie ihre erste Haute Couture-Kollektion „First Couture“ und „Atomic Bomb“ mit aufgetriebenen Oberteilen aus denen die Köpfe der Models wie draufgesetzt erscheinen. Hier zeigte sich schon die Überzeugung der beiden Modeschöpfer, dass das Kleidungsstück autonom zu sein hat, das Model ist zweitrangig.

Kleid trifft Körper, Körper trifft Kleid, … rein zufällig“ (Katalog V&R. Fashion Statements, S. 25)

Noch mehr Bedeutung erlangt die Aussage bei den späteren skulpturalen Kleidern, bei denen die tragende Personen nicht mehr zu sehen sind.

„Das ist auch der Grund, warum wir nicht so einen Fetisch hinsichtlich dessen pflegen, wer es trägt, oder einen Fetisch bezüglich der Kleidung von Prominenten. Vielleicht sollte man das nicht sagen, aber das interessiert uns einfach nicht. “
V&R im Katalog "V&R. Fashion Statements", S.25)

Mit „Russian Doll“ 1999, dem zweiten von zunächst 5 Haute-Couture -Kollektionen, gelang der endgültige Durchbruch mit nur einem Mannequin!  Nacheinander wurden ihm 9 Kleidungsstücke von Viktor&Rolf unter dem begeisterten Beifall der Gäste angezogen. Das letzte Stück war ein großer Umhang aus Sackleinen mit gestickten Verzierungen. Ähnliche Präsentationen wurden wiederholt, auch in entgegengesetzter Richtung, wie bei „Glamour Factory“ 2010, bei der die entfernten Kleider neuen Models angezogen wurden.

Die Idee „Nur ein Model“ zeigt eine weitere Charakteristika von V&R: die Einschränkung!

Es folgte die Idee „Nur ein Stoff“ 2013 in „Zen Garden“.

Schwere schwarze, neoprenähnliche Stoffe arrangierten sie zu skulpturalen, voluminösen Formen, die zum Teil mit überdimensionierten Reißverschlüssen oder gar Magneten geschlossen wurden.

 

Peter Stigter
Zen Garden Haute Couture, A/W 2013–14
© Peter Stigter

Die Idee „Nur eine Farbe“ war dann nicht mehr aufzuhalten, zu sehen in den Kollektionen „Blacklight“ von 1999 oder in „The Immaculate Collection“ von 2018.

Nur folgerichtig wendeten sich die beiden Designer ab 2001 auch der tragbaren Damenmode zu, Ready-to-wear dominierte ihr Wirken neben einigen Haute Couture-„Ausrutschern“ („Shalom“ 2009 z.B.) bis 2013. Dabei definierten sie ihre Linien mit Schleifen, Rüschen, Volants, gestickten Motiven, gern mit Pink, laserten Sprüche und Texte auf die Stoffe oder verwendeten Stoffreste, „zersägten und „zerrissen“ alte Stoffe – Upcycling! Neu gewebt kreierten sie daraus Entwürfe zum Träumen mit langen, bunten, voluminös mit „Resten“ bestickten Röcken, Hosen oder Umhängen, wie bei „Vagabunds“ von 2017.

 

 

Das durch die Mode Sagbare ist begrenzt. Sprüche und Texte helfen diese Grenzen zu sprengen, geschehen 2019 in „Fashion Statements“ in einer großen Reihe üppiger Rock- und Kleiderkombinationen aus Tüll, Seide in bunten, variablen Arrangements. Nicht nur die von einfachen T-Shirts u.ä. übernommenen Texte forderten heraus, auch die Konfrontation zwischen einer aufwendig arrangierter Mode und gewöhnlichen Texten schafften den von Viktor&Rolf gewünschten surrealen Effekt.

 

 

 

Peter Stigter
Fashion Statements Haute Couture, S/S 2019
© Peter Stigter

Noch eine Besonderheit der beiden: seit 2006 wird jede Kollektion in eine Miniaturversion umgearbeitet und mit Puppen ausgestellt. Der Wunsch, Ideen zu bewahren, ist einfach zu groß.

Die Arbeit des Schöpferteams V&R beginnt immer mit einer Idee. Sie wird gemeinsam ausgebaut, erweitert und geht in ein Konzept über. Technische Aspekte, Accessoires- und Stoffsuche gehen einem Entwurf und der Realisierung voraus. V&R wollen mit ihren Themen etwas erzählen, ernsthafte Überlegung begleiten jede Kollektion. Dabei spielen für die Realisierung ihrer Werke das Wesentliche der beabsichtigten Aussage und ein solider, unverfälschter Stil höchste Priorität.

Dem stehen das Ausloten von Gegensätzen und die Freude an neuen gestalterischen Ideen nicht entgegen. V&R denken zeitunabhängig und lösen sich bewußt von gerade herrschenden Trends. Sie greifen bewusst auf Glanzleistungen in der Kunst- und Modegeschichte zurück, um sie mit ihren Mitteln zu interpretieren. Sie stehen im Dialog mit der bildenden Kunst und bezeichnen sich als Fashion Artists.

Cindy Sherman (*1954) fotografierte einen von V&R in der Kollektion „Flowers“ von 2003 vorgestellten Clown. Lebensbejahend, fröhlich und harmonisch fügt sich der Harlekin in einen bunten, mit hunderten Blumen belegten kurzen Mantel, der von einem großen weißen Rüschenkragen gekrönt wird.

In der Ready-to-wear-Kollektion „Pierrot“ von 2008 ließen sie sich von dem Pantomime Künstler Marcel Marceau, dem Maler Jean-Antoine Watteau und dem Fotografen Man Ray inspirieren. Sie schufen 2015 Haute-Couture-Kollektionen als „Van Gogh Girls“, bedienten sich im gleichen Jahr der „Wearable Art“, in dem sie Stoffe und Stickereien in Bilderrahmen projizierten.

 

 

Nachbildungen bestimmter Gemälde sind dabei so täuschend ähnlich zum Original, womit sich zeigt, Mode ist eben auch Kunst!

 

Philip Riches
Wearable Art Haute Couture, A/W 2015
© Philip Riches

Beweisend dafür sind ebenfalls die durch skulpturale Kreationen „verlebendigten“ Puppen, wie die antik anmutenden Skulpturen in der Kollektion „Statues“ von 2009,

 

mehr noch in der 2016 viel beachteten Show „Performances of Sculptures“. Kleider, wie aus der Hand eines Bildhauers, lassen die Trägerinnen hinter der künstlerisch aufbereiteten Plastik nur erahnen, betonen die von V&R gewollte Präsenz des Kleidungsstückes.

 

 

 

 

 

Philip Riches
Performance of Sculptures Haute Couture, S/S 2016
© Philip Riches

So wie in ihrem 2005 eröffneten Upside-Down-Flagship-Store in Mailand alles auf dem Kopf steht, das feine Parkett mit Stühlen und Interieur an der Decke hängt, zeigt die Kollektion „Upside down“ von 2006 und die Haute Couture Kollektion „Late Stage Capitalism Waltz“ von 2023, dass man Kleidung auch umgekehrt tragen kann.

 

 

 

 

Peter Stigter
Late Stage Capitalism Waltz
Haute Couture, S/S 2023
© Peter Stigter

 

 

 

Vielleicht geht das manchem doch zu weit, dann sollte man diese herrliche Kuriosität, wie bezweckt, dem Fach der Kunst zuordnen, sich daran erfreuen und es einfach bewundern.

Und auch das wird im Katalog beschrieben, so dass man es gleich probieren möchte::
Flowerbomb“! 2004 stellten Viktor&Rolf das Parfüm mit seiner explosiv femininen Duftnote im Rahmen ihrer gleichnamigen Ready-to-wear-Kollektion vor.
Herren erreichen den V&R-Duft über die würzig, blumige Duftessenz „ Antidot“.

Modenschauen, Events, Fashion Weeks, und warum jetzt ins Museum?

Museumsausstellungen sind eine großartige Möglichkeit, mehreren Ideen gleichzeitig Anschaulichkeit zu verleihen, ein Gesamtwerk vorzustellen und zu zeigen, wie die Ideen miteinander in Verbindung stehen. Das Publikum hat eine andere Beziehung zu den Werken, wenn sie in einem Ausstellungsraum präsentiert werden. Die Leute können sich Zeit nehmen, sie zu betrachten.«V&R
(Sofern nicht anders angegeben, stammen die Zitate von Viktor&Rolf aus Gesprächen mit Thierry-Maxime Loriot. Katalog S. 52)

 

Inez & Vinoodh
Viktor&Rolf, 2016
© Inez & Vinoodh / VLM Studio

Der Besuch der Ausstellung „V&R. Fashion Statements“ wird für Freunde der Mode ein Ereignis sein, der Katalog des Hauses HIRMER zur Ausstellung für jeden mit Mode befassten ein Muss. Nicht nur die umfängliche Anzahl ausgezeichneter Bilder, Zeugnisse 30 jähriger schöpferischer Designerarbeit des Duos Viktor Horsting und Rolf Snoeren begeistert, sondern ein umfangreicher Textteil läßt Hintergründe, Ansichten, Statements der Modekünstler verstehen. Die Bilder vermitteln einen Rausch von Ideen, Farben, Projekten und Kunstwerken, die die in der Mode tätigen anregen und im Detail vielleicht auch das eine oder andere nachahmen lassen. Die Bilder zeugen von einer Kreativität, die in vielen Beispielen grenzenlos ist und mögliche Wege in einer modernen Mode aufzeigt. Das große Können beider Modeschöpfer und des gesamten Teams wird in der Ausstellung, vor allem aber auch in dem vorliegenden Katalog eindrucksvoll präsentiert.

»Viktor&Rolf. Fashion Statements«
23. Februar – 6. Oktober 2024

Kunsthalle München, Theatinerstr. 8, 80333 München
Tel. 089 – 224412
www.kunsthalle-muc.de

Öffnungszeiten
tägl. 10 bis 20 Uhr