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„Mythos und Massaker“ Ernst Wilhelm Nay und André Masson. Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin

Unter dem eindrucksvollen Titel „Mythos und Massaker“ beleuchtet die Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg die künstlerische Beziehung zwischen dem französischen Surrealisten André Masson (1896 – 1987) und dem Berliner Ernst Wilhelm Nay (1902 – 1968). Wenn am 28. April die Ausstellung ihre Pforte schliessen wird, haben beide Künstler erstmals über ihre Bilder miteinander kommunizieren können, denn sie kannten sich nicht, waren sich nie begegnet, selbst nicht, als beide ihre Werke bei der documenta 1954,1959 und 1964 zeigten. So verschieden ihre Lebensläufe, so andersartig ihre Begegnungen mit den mörderischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren, weisen eine Reihe ihrer Gemälde und Zeichnungen eine augenfällige Ähnlichkeit auf, also Anlass für diesen späten Dialog!

 

André Masson,
Massaker
1931
Öl auf Leinwand, 120 x 160 cm
Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin©
Foto: Jochen Littkemann
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

An prominenter Stelle hängend, sicher auch die Aura der Ausstellung bestimmend, begrüsst das 120 x160 cm grosse Ölgemälde „Massacre“ von André Masson aus dem Jahr 1931 den Besucher. Er war als junger Soldat im ersten Weltkrieg 1917 schwer am Brustkorb verwundet worden. Als Symbol dieser Verletzung hinterliess Masson auf all seinen Bildern einen aufgeschnittenen Granatapfel: als Herz, als Vulva oder als Wunde.
Am Beginn der 1930iger Jahre schuf Masson Zeichnungen und  Bilder, die die „Massaker“, die erlittenen Traumata während des Ersten Weltkrieges thematisierten. Rohe Gewalt, im Bild von 1931 zu erkennen an einzelnen losgelösten Körperteilen, Händen, Armen, Füßen, wahllos in geometrische Formen gepresst und miteinander verschlungen, weidet sich an strahlenden orange-gelb-grünen Farben, die die vernichtende Kraft eines Krieges fühlen lassen.

Als Pendant zu Massons „Massacre“ bietet sich Ernst Wilhelm Nays „Der Besuch“ von 1945 und eine Reihe weiterer Werke seiner „Hekatezeit“ an, die farblich, aber auch durch die aufgelösten, geometrisch geformten Figurenanordnungen Parallelen zulassen. Formal ja, Bezüge zu dem soeben überstandenen Krieg sind nicht zu erkennen.
Vielmehr grüßen im Weiteren während des Krieges in Frankreich gemalte Gouachen und Aquarelle, die Park- und Gartenlandschaften, Frauen im Sommer, Badende und Liebespaare zeigen.

 

 

Ernst Wilhelm Nay,
Der Besuch,
1945
Öl auf Leinwand
Privatbesitz
Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

Ernst Wilhelm Nay war zum Kriegsdienst einberufen worden, zunächst als Soldat an der Westfront. Ein Freund und Förderer kümmerte sich um einen „humaneren“ Einsatz, er wurde Kartenzeichner in Le Mans. Nicht nur Kontakte zu den Einheimischen wurden möglich, auch Malen konnte er. Diese Bilder zeugen von seiner Liebe zur Farbe, die Form und Design der im postexpressionistischen und postkubistischen Stil gehaltenen Werke bestimmt.

Auch Nays Gouache „Drei Männer mit Stier“ lehnen sich formal an Massons „Massacre“ an. Maskuline Kraft von Mensch und Tier wird durch opulente Schwingungen der Körperflächen unterstrichen. Zerlegte Gliedmaßen, Teile eines Fusses, separate Augen und die Stierschnauze signalisieren in vehementer Weise die strotzende Kraft, 1947, ein Bild aus Nays Hekate-Zeit

 

 

Ernst Wilhem Nay
Männer mit Stier
, um 1947
Gouache auf Papier
Privatbesitz
Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

1931 hatte der 29jährige Nay den „Rompreis“ der Deutschen Akademie der Künste für einen neunmonatigen Studienaufenthalt in der Villa Massimo erhalten. Das Ergebnis waren Bilder, die dem Surrealismus folgten. Auch für André Masson waren die Endzwanziger des letzten Jahrhunderts „surrealistisch“ prägend. Von Anfang an fest in die Bewegung der Surrealisten integriert, störte sich André Masson an der ideologisch bedingten  Frage des „politischen Engagements“ der Bewegung, die forderte, sich an die kommunistische Partei anzunähern. Masson schrieb:

„Artaud und ich selbst hatten bis dahin immer strikt abgelehnt, uns einer politischen Partei anzuschließen. Das sorgte für einen tiefen Dissens. “
„André Masson. Zwischen Welten - Entremondes“ Hrsg.: F.Bußmann u. D.Kopka,
Kunstsammlungen Chemnitz, 2020, S.40

Antonin Artaud (1896 – 1948) war ein französischer Schauspieler, Dramatiker und Dichter.

 

André  Masson
Selbstbildnis in der Hölle
, 1945
Öl auf Leinwand
Die Galerie, Frankfurt am Main
Foto: Die Galerie, Frankfurt
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

Die nach 1929 spürbare deutliche Distanz zu den Vorstellungen André Bretons (1896 – 1966) stärkte den Glauben Massons an die eigenständige Aussagekraft der Malerei, er
„verschrieb seine Kunst der „modernen Tradition“ und interpretierte das Erbe des Kubismus neu“ (Ebd. S. 41, s.o.),
er entwickelte eine semiabstrakte, halbfigurative  Formensprache. Die unterbewussten und undurchschaubaren Seiten der menschlichen Natur,  Gewaltexzesse und sexuelle Begierden waren seine Themen, die er zunehmend mythologischen Ereignissen entnahm. Beispielhaft bildete Ariadne als Hüterin des Labyrinths und seiner Geheimnisse ein häufiges Motiv für Gemälde und Zeichnungen, letztlich um die Geheimnisse der menschlichen Seele zu erkunden. 1936 gründete Masson mit Georges Bataille (1897-1962) die neue Zeitschrift „Akephalos„, nach dem kopflosen Sonnengott benannt. Ihm verlieh der Künstler in dieser Zeitschrift Eigenschaften der alten griechischen Götter, damit diese die vom Faschismus bedrohten europäischen Länder retten sollten.

Die Besetzung Frankreichs im 2. Weltkrieg zwang André Masson 1941, in die USA zu fliehen. Seine Frau war Jüdin.

4 Jahre arbeitete er in Amerika, liebte und malte die üppige Natur seiner Umgebung in Connecticut. Er entfernte sich endgültig vom „offiziellen“ Surrealismus. Asiatische Kunst, die Kalligraphie, rückten in seinen Blickpunkt. Nach seiner Rückkehr 1945 nach Frankreich illustrierte André Masson Bücher, schuf Bühnenbilder, malte in der Provence Landschaftsbilder, beschäftigte sich mit der Kunst des chinesischen Zen-Buddhismus und der Landsknechtmalerei, die er in der deutschsprachigen Schweiz in jungen Jahren kennengelernt hatte.

 

Ernst Wilhelm Nay
Selbstbildnis, 1942
Aquarell mit Deckweiß auf Aquarellkarton
E.W.Nay-Stiftung
Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

 

 

 

Um 1930 hatte Ernst Wilhelm Nay, inspiriert vom Werk Henri Matisses, auf der Insel Bornholm „Strand-und Dünenbilder“ in mutiger Farbgebung gemalt mit Sandbergen, die er kubistisch formte.

Nay hatte im deutschen Kunstbetrieb einflussreiche Freunde, die ihm halfen, der teilweisen Ächtung seiner Werke durch die Nazis und den nationalsozialistischen Kunstauffassungen zu entkommen. Die Unterstützung reichte bis zu Edvard Munch (1863 – 1944), der ihm einen mehrmonatigen Aufenthalt in Norwegen auf den Lofoten ermöglichte. Hier interessierten Nay die kosmischen Zusammenhänge, die mythischen Bindungen zwischen Mensch, Tier und Natur. Die All-Verbundenheit diente als Bildmotiv. Es entstanden expressive, rhythmisch stark bewegte Bilder mit ornamentalen Details. Dabei sind figürliche Elemente, wie auch bei André Masson immer nachweisbar.

Nach 1945 nahmen mythologische und religiöse Themen in der Themenwahl Nays breiten Raum ein. Mit bewegtem Pinselstrich und pastösem Farbauftrag entstand das erste der „Hekate“-Bilder, die „Tochter der Hekate I“ und die Liebesinsel der Aphrodite „Kythera“ kolorierte er 1947. Nach den sogenannten fugalen Werken mit farbigen Flächen, scharf konturiert, Punkten und Dreiecken inspirierte ihn Neue Musik zu rhythmischen Bildern, damit war der Schritt zur wirklichen Abstraktion getan.

 

 

Ernst Wilhelm Nay
Tanz der Fischerinnen,
1950
Öl auf Leinwand
Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

Dann kam über 8 Jahre die Rundform der „Scheibe“ zu ihrem Recht und wurde in allen Variationen zu Nays Hauptmotiv.

„So fing ich mit sehr harmlosen neuen Versuchen an und stellte fest: Wenn ich mit einem Pinsel auf die Leinwand gehe, gibt es einen kleinen Klecks, vergrößere ich den, dann habe ich eine Scheibe. Diese Scheibe tut natürlich auf der Fläche schon eine ganze Menge. Setze ich andere Scheiben hinzu, so entsteht ein System von zumindest farbigen und quantitativen Größenverhältnissen, die man nun kombinieren und weiterhin zu größeren Bildkomplexen zusammenbauen könnte. “
Ernst Wilhelm Nay in „Vom Gestaltwert der Farbe“, 1955 in https://www.kunsthandel-henneken.de/Ernst-Wilhelm-Nay-10

Das prominenteste Scheibenbild ziert eine Wand im Chemischen Institut der Universität Freiburg in einer Größe von 258 x 635 cm. Nach 1963 führten „Augenbilder“ die Entwicklung weiter. Der Künstler hatte begonnen seine Scheiben zu durchstreichen. Auf diese Weise entstand die Form eines Auges.
Nach 1965 beschäftigte sich Ernst Wilhelm Nay intensiv mit Farben, die er in meist senkrecht verlaufenden Bahnen gegenstandsfrei zu verschiedenen Kompositionen formte.


Zwei Künstler, die sich nicht beeinflussen konnten, weil sie sich nicht kannten, schufen über eine gewisse Zeit Gemälde, die man fast verwechseln kann. Das Wichtige daran, es geschah in einer Zeit, die übermenschliche Belastungen und Verwerfungen bereithielt. Sie malten das Gleiche, interpretierten aber das Geschehen in völlig verschiedener Weise. Beklagte und verabscheute André Masson die Grauen des Krieges, ummantelt der junge Soldat Nay die Katastrophe des 2. Weltkrieges mit Szenen in seinen Werken, die eine friedliche Welt vortäuschten.

 

 

André Masson
Massacre
, 1933
Kohle und Pastell auf Papier Sammlung Scharf-Gerstenberg,
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Foto: bpk / Nationalgalerie, SMB, Sammlung Scharf-Gerstenberg / Volker-H. Schneider
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

 

 

 

 

 

Ernst Wilhelm Nay
Sibylle, 1945
Bleistift auf Papier
E.W.Nay Stiftung
Foto: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

Beide Künstler waren dem Surrealismus verpflichtet, unterschieden sich aber mental und charakterlich deutlich.

In André Massons Denken, seiner Kunst, seinem Leben bestand immer eine klare Kontinuität.
Das Triebhafte, Sex, Gewalt und Obsessionen waren seine Themen.
André Bretons Besessenheit, die Kunst mit der Politik zu verbinden, lehnte er ab, ohne die surrealistische Malweise zu verlassen, vielmehr beförderte er das surrealistische Gedankengut aktiv durch Kontakte mit Schriftstellern und Philosophen.
Er scheute sich als Franzose nicht, sich mit deutschen Persönlichkeiten von Goethe, Hölderlin bis Novalis zu beschäftigen und
er malte in den Kriegsjahren Bilder zur Resistance.
Letztlich zeugte auch die Auseinandersetzung mit den Schweizer Landsknechten von seiner Freude, Deftiges, Kraftvolles zu beherrschen.
Masson war es gelungen, das für den Surrealismus zentrale Konzept der »écriture automatique«, des automatischen Schreibens, in seine Zeichnungen zu übernehmen, sicher in den amerikanischen Jahren für das Action Painting inspirierend.
Dass er auch die Erotik sehr ernst nahm, zeigt, dass seine Einzelausstellung „Terre erotique“ (Erotische Erde) 1947 in der Pariser Galerie Vendome zensiert und daraufhin geschlossen wurde.

Das Leben von Ernst Wilhelm Nay verlief leichter.
In Berlin in bürgerlichem Umfeld aufgewachsen, hatte er immer helfende und fördernde Hände an seiner Seite, die ihn nur selten ausweglose, katastrophale Situationen erleben liessen.
Im Gegensatz zu André Masson, der Autodidakt war, genoss Nay die Ausbildung in der Malklasse von Carl Hofer (1878 – 1955) an der Berliner Akademie der Künste.
Auch seine Bilder wurden nach 1933 öffentlich verhöhnt, wurden beschlagnahmt und zum Teil als „entartet“ dargestellt. Aber es gab einen Carl Georg Heise (1890 – 1979) und einen Edvard Munch und das Malen in Norwegen konnte weitergehen.
Sein wiederkehrendes Glück führte dazu, dass er als Kartenzeichner in Le Mans die Welt in seiner schönen Form malte, das Schlechte blieb verborgen.
Nach kubistischen Anfängen, expressionistisch gemalten Bildern, Arbeiten für den Surrealismus, wurde Ernst Wilhelm Nay nach dem Krieg zur bundesdeutschen Ikone der Abstraktion. Scheiben- und Augenbilder bildeten über Jahre sein Markenzeichen.

Die Jahre der Gemeinsamkeit mit Massons Werken waren Vergangenheit, keiner von beiden hat auch das je bemerkt.

Und so bleibt die Frage, wie konnten zwei so unterschiedlich fühlende und agierende Künstler in Stil und Ausführung nahezu identische Werke schaffen?
Bestimmt die Zeit, die Epoche oder gar das Zeitgeschehen die Art eines Kunstwerkes?
Welche Rolle spielt dabei noch die subjektive Persönlichkeit eines Künstlers?

„Ich bin von Anfang an Mythologe gewesen. Die griechischen Mythen, allen voran die düsteren aus Griechenland, haben mich immer zutiefst bewegt.“
„André Masson. Zwischen Welten – Entremondes“ Hrsg.: F.Bußmann u. D.Kopka
Kunstsammlungen Chemnitz, 2020, S.51

 

 

André Masson
Narcisse
, 1937
Öl auf Leinwand
© Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie/
Foto: Jochen Littkemann
© VG Bild Kunst, Bonn 2023

Mythos und Massaker
Ernst Wilhelm Nay und André Masson
bis 28.04.2024

Sammlung Scharf-Gerstenberg
Staatliche Museen zu Berlin
Schloßstraße 70
14059 Berlin

Öffnungszeiten
Dienstag bis Freitag 10 – 18:00 Uhr
Sonnabend/Sonntag 11 – 18:00 Uhr