Follow my blog with Bloglovin

„Beauty Is A Line“ – eine Ausstellung des Picasso-Museums in Münster

Der römische Gelehrte Plinius berichtet in seiner »Naturalis historia« über den Malwettbewerb zwischen den antiken Künstlern Apelles und Protogenes. Sie wetteiferten auf einer Tafel, wer von beiden die künstlerisch wertvollste Linie ziehen kann. Apelles entschied den Disput für sich, indem »er mit einer dritten Farbe die Linien (durchzog), so dass für etwas noch Feineres kein Platz mehr war«. Bevor die Tafel vernichtet wurde, »konnte man sie auf Rhodos sehen; sie enthielt auf einer großen Fläche nichts anderes als kaum sichtbare Linien; unter den herrlichen Werken vieler Künstler war sie gleichsam leer, lockte aber gerade darum an und war berühmter als jedes andere Kunstwerk«. (1)

Wie modern das klingt!

Die Linie in der Kunstgeschichte

Die Linie – präsent, so lange es Kunst und Malerei gibt, über Jahrhunderte zur Begrenzung von Flächen verstanden – definierte Umrisse und Formen, die Regelmäßigkeit von malerischem Helldunkel und zeichnerischer Klarheit. (2) Wenn sie auch beiden Wegen diente, dem kolorierten Gemälde und der gezeichneten Skizze, war die Bedeutung einer Linie in einer Zeichnung angewandt schon immer eine viel Größere. Kunsthistorische Debatten zu Raffael und Rembrandt oder zu Venedig und Florenz belegen es. Schon im 18. Jahrhundert beginnend (William Hogarth, 1753; »The Analysis of Beauty« (3)) nahmen die Diskussionen »um die Linie« im folgenden Jahrhundert zu (Honoré Daumier, verständlicherweise als Graphiker und Karikaturist).

Die Zukunft der Linie war gesichert, ihre Wichtigkeit erkannt, mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts übernimmt sie in der Kunst eine eigenständige und dominante Rolle. Es wird zum Jahrhundert der Linie. Am Beginn der neuen, modernen Ausrichtung der Kunst stehen Künstler, die nicht mehr das mit den Augen Wahrnehmbare gestalten wollen, sondern dass »Geistige in der Kunst« (Wassily Kandinsky) suchen. Das Gefühlte, im Geist verarbeitete, das Begriffene soll auf die Leinwand in fantasievollen Formen umgesetzt werden. Was lag also näher, sich der Linie in einer ganz neuen Bedeutung zu bedienen. Formenreich ist sie selbst oder imaginär als Grenze zweier Farbflächen in der Lage Stimmungen, Schönheit, Flüchtiges, Kurioses und Wesentliches darzustellen. Die moderne Kunst ist eine Kunst der Linie.

Die Lust, sich diesen Aussagen zu widmen, erfüllt man sich nirgendwo so gut wie im Kunstmuseum Pablo Picasso in der westfälischen Stadt Münster. Hier findet vom 1. Februar bis zum 24. Mai 2020 eine Doppelausstellung »Beauty Is A Line« gemeinsam mit dem Rijksmuseum Twenthe in Enschede statt. Obwohl die beiden Museen 60 km trennen, reicht nur ein Ticket, um das bewusst gemeinsam Geschaffene in Gemälden, Grafiken, Skulpturen, Assemblagen, Filmen, Installationen, Performances und Einrichtungsgegenständen zu sehen. Heißt es in Münster »Von Cy Twombly bis Gerhard Richter« locken die Enscheder mit »Picasso & Matisse«.  Dabei vermittelt das gemeinsame Konzept eine optimal strukturierte Schau, die den Interessierten schrittweise an die zunehmend avantgardistischeren Ideen und Auffassungen der modernen Kunst im 20. Jahrhundert heranführt.

Die Linie ist dabei Trumpf!

Die Linie im Jugendstil

Wir beginnen mit der dekorativen Linie, die uns mit dem gefälligen Jugendstil (Art nouveau) französischer und niederländischer Künstler verbindet (Henri Matisse, Jan Sluijters, Jan Toorop, Johan Thorn Prikker, Henry van der Velde oder Alfons Maria Mucha).

Johan Thorn Prikker, Plakat Holländische Kunstausstellung in Krefeld, 1903, Lithografie, Drents Museum, Assen

Paul Ranson, Florale Formen, 1897, bedruckter Samt, Deutsches Textilmuseum Krefeld

Expressionismus und Linie

Man begreift die Linie als Ausdruck eines expressiven Lebensgefühls, betrachtet man das phantastische, eindringliche »Heraufziehendes Gewitter bei Heeze« von Jan Sluijters in Enschede, die stimmungsbetonten für Ernst Ludwig Kirchner typischen klar »linierten« Bilder oder Farbkompositionen einer Jacoba van Heemskerck oder eines Ernst Wilhelm Nay.

Ernst Wilhelm Nay, Orange und Schiefergrau, 1953, Öl auf Leinwand, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Die Linie in der niederländischen Avantgarde-Gruppe „De Stijl“

Es werden Beispiele der niederländischen Avantgarde-Gruppe »De Stijl« mit Bart van der Leck, Friedrich Vordemberg-Gildewarts und César Domela gezeigt, die mit ihrer geometrisch-abstrakten Formensprache ein ganz neues Niveau erreichten.

Bart van der Leck, Composition No. 8, 1917, Öl auf Leinwand, Gemeentemuseum den Haag © VG Bild-Kunst , Bonn 2020

Domela, Triptychon II, 1972-1979, Siebdruck, Rijksmuseum Twenthe, Enschede, Sammlung Wilploo

Picasso, Matisse und …

Eine besondere Kostbarkeit sind die mit wenigen Linien gezauberten Gemälde von Pablo Picasso und Henry Matisse, die Ausdruck einer Konturlinie sind.

Gestische Linien findet man bei Cy Twombly, Jackson Pollock oder dem Isländer Olafur Eliasson – Wirbel, Schleifen, Linienknäul verraten Gedankenströme, Wirrnisse, Aufregung oder gar nichts.

Cy Twombly, Untitled, 1969, Ölfarbe, Wachsstift, Sammlung Prof. Dr. Reiner Speck © Cy Twombly Fondation

Konstruktive Linien

Nun fehlen nur noch Beispiele der konstruktiven Linie, deren US-amerikanischer Vertreter Sol Lewitt seine Aufgabe darin sieht, »durch interessante Ideen den Betrachter intellektuell herauszufordern und nicht, ihn emotional zu überwältigen.«

Sol Lewitt, Five Part Variations with Hidden Cubes, 1968-1972, Plastikkuben, bemaltes Holz und Bleistift, Metropol Kunstraum, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Donald Judd, Untitled, 1962, Holzschnitt (Ölfarbe auf Papier), Probedruck, Metropol Kunstraum, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 (2)

Begleitend zeigt das Picasso Museum eine Kabinettausstellung zu den Büchern des Monsieur Vollard.

Der französische Verleger, Kunsthändler und Galerist Ambroise Vollard (1865 – 1939) war für die Künstler des 20. Jahrhunderts die wichtigste Bezugsperson. Seine Pariser Galerie war Treffpunkt der Pariser Avantgarde und ermöglichte wichtige Einzelausstellungen von Paul Cezanne, Henri Matisse und Pablo Picasso. Persönlich initiierte und verlegte er Maler- und Künstlerbücher. Die Schau vereint einige der schönsten Exemplare dieser Bücher der im Picasso-Museum beheimateten Sammlung Classen.

Maurice Denis, Amour, 1899, Malerbuch mit Farblithografien, Sammlung Classen im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster

Münster – Enschede 2020. Pablo-Picasso-Museum. Rijksmuseum Twenthe. Überwältigend! Die Kunst des 20. Jahrhunderts zusammengefasst an 2 Orten anhand der »Linie«. Die Linie ist die Kunst des 20. Jahrhunderts! Erforschen sollte sie jeder.

Literatur

1 »Der Künstler selbst war abwesend.« Zu Plinius’ Erzählung vom Paragone der Linien, Sabine Mainberger,
   „Im Aragon der Künste“, S. 19-31, DOI: https://doi.org/10.30965/9783846742471_004
2 „Rembrandts Strich“ Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Stephanie Buck et al, 2019, S. 19
3 „Beauty Is A Line” Katalog, Hrsg. J.Beltman, A.Gaude, P.Knolle, M.Müller, A.Odding, T.de Raedt

Beauty Is A Line“
1. Februar bis 24. Mai 2020

Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag 11:00 – 17:00 Uhr

Führungen
Sa und So 15:00 und 16:30 Uhr

Katalog
Verlag Waanders, 100 Seiten, 90 Abb., 21,95 €

Audioguide in Deutsch, Englisch und Niederländisch

Kontakt

www.kunstmuseum-picasso-muenster.de
E-Mail: info@picassomuseum.de
Tel.: +49 (0) 251 41 44 7 – 10
Picassoplatz 1
48143 Münster

 

Dauerausstellung:

Picassos Suite Vollard – Französische Malerbücher – Braque-Sammlung – Chagall-Sammlung – Picassos Linolschnitte – Henri Matisse – Honore`Daumier –