Modegeschichte & Trends
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Der Gummistiefel und seine Geschichte
In einem historischen Abriss, erläutert Michael Neubauer in sisterMAG No. 63 die Geschichte des Gummistiefels. Eines ist klar: Gummistiefel ist nicht gleich Gummistiefel!
- Text: Michael Neubauer
Der Gummistiefel und seine Geschichte
Ein Satz muss am Anfang stehen: Gummistiefel ist nicht gleich Gummistiefel!
Besteht er aus Naturkautschuk oder aus synthetischem Material, wurde er handgefertigt oder im modernen Spritzverfahren produziert, hat er ein Innenleben oder ist er aus Gummi pur. Will ich gelegentlichen Wetterkapriolen trotzen, mit meinem Stiefel wohltemperiert wandern oder jagen gehen oder will ich mit ihm als modisches Accessoire mein Outfit ergänzen.
All das kann der Gummistiefel – allerdings hat jede Neigung ihren Preis.
Den Werdegang des Gummistiefels markieren einige wenige, markante, einfallsreiche, clevere Geschäftsleute des 19. Jahrhundert. Die wasserabweisende Eigenschaft des Milchsaftes des Kautschukbaumes war natürlich schon viel eher bekannt. Übereinstimmend wird berichtet, dass südamerikanische Ureinwohner schon vor reichlich 3000 Jahren erkannten, dass sie ihre Fußbekleidung, mit der aus dem Kautschukbaum austretenden Milch (»Latex«), gegen Nässe schützen zu können. Die in Kautschukmilch getränkten Textilien blieben aber für Hitze und Kälte empfindlich, zu weich und spröde und so gab es lange, bis ins 19. Jahrhundert hinein, keine echte Weiterentwicklung.
Der US-amerikanische Chemiker und Tüftler Charles Goodyear (1800-1860), überzeugt von der Anwendbarkeit der Kautschukmasse, experimentierte mit den verschiedensten Chemikalien. Er hatte 1839 das Glück auf seiner Seite: Als er dem Kautschuk Schwefel zufügte, tropfte ein Teil der Masse auf die heiße Herdplatte. Dabei entstand ein ebenso elastischer wie stabiler Gummi (1). Das Prinzip der Vulkanisation war erfunden. Unternehmerisch war Goodyear nicht erfolgreich, alle seine Versuche, sein Patent in Produkte umzuwandeln, wie Schuhe, Geschirr- und Möbelteile oder gar Kondome, scheiterten. Die große Reifenfirma »Goodyear Tire & Rubber Company« wurde erst 1898 gegründet und erhielt ihren Namen ihm zu Ehren.
Andere nutzten ihre Chance!
Der erste war der der amerikanische Ingenieur Hiram Hutchinson (1808-1869). Mit einer Lizenz von Goodyear zur Herstellung von Kautschukgummi siedelte er nach Frankreich über. Frankreich, weil hier die Erfolge Goodyears noch wenig Anwendung fanden. Südlich von Paris begann er 1853 mit der Produktion von Gummischuhen der Marke »A l’aigle«, heute »Aigle« (amerikanischer Wappenadler), schon ab 1854 täglich 5000 Paar Schuhe und Stiefel. Ein Werk in Mannheim folgte, hochwertige Aigle-Gummistiefel kaufen wir noch heute (2).
Ein zweiter Amerikaner, Henry Lee Norris (1813-1881), siedelte sich 1856 in Schottland an, um mit der Produktion von Gummiartikeln, u.a. von Gummistiefeln zu beginnen. Die Firma produzierte während der Weltkriege im vergangenen Jahrhundert wirtschaftlich außerordentlich erfolgreich. Stiefel jeder Art waren in den morastigen Kampfgebieten sehr gefragt. 1955 wartete sie mit einem sehr begehrten grünen Gummistiefel auf, der als Original »Hunter Boot« bekannt ist. Als »Hunter Rubber Co. Ltd« firmiert sie heute und ist Hoflieferant des englischen Königshauses.
Stiefel waren auf der britischen Insel schon immer ein bekannter Begriff. Auf Wunsch des berühmten Napoleon-Bezwingers in der Schlacht bei Waterloo (18.06.1815) Sir Arthur Wellesley (1769-1852), Herzog von Wellington war dem englischen Modegeschmack und den militärischen Gebotenheiten dieser Zeit entsprechend eine enganliegende, bequeme und hochschäftige Stiefelform (»Hessenstiefel«) aus Leder entwickelt worden, die der heutigen sehr nahekommt. Deshalb bezeichnen die Briten auch ihre Gummistiefel gern als »Wellington Boots« oder verniedlicht nur als »Wellies«.
Die Fertigung von Gummistiefeln erfolgt auf vielen Wegen. Als Ausgangsstoff wird hochwertiger Naturkautschuk, Synthesekautschuk, hergestellt durch Polymerisation verschiedener chemischer Ausgangsstoffe (am bekanntesten Styrol-Butadien-Kautschuk »BUNA«), aber auch Polyurethane und PVC verwendet. Auch heute noch werden Stiefel in Handarbeit produziert, weil dabei verschiedene Gummisorten verwendet werden können, die den Tragekomfort verbessern. Automatisch können Gummistiefel durch Pressen oder Spritzen durch Druck und Hitze in vorgefertigte Formen hergestellt werden, erkennbar an einer sichtbaren Trennfuge. Komfort bietet auch die Auskleidung des Innenstiefels mit Textilien oder Leder, um Temperaturen und mechanische Einflüsse abzufangen.
Wählte man einst Gummistiefel, um sich vor Nässe, Morast, Kälte oder Wärme zu schützen, trugen sie Militärs, Bauern, Bauarbeiter, Polizei oder Feuerwehr, kann man heute mit Gummistiefeln seinen modischen Stil, knöchelhoch oder als Langschaft, charakterisieren, aber auch zeigen, was man kann und hat. Dem Spiel sind keine Grenzen gesetzt. Hinzukommt die umweltbewusste Trägerschaft, die auch beim Kauf von Gummistiefeln darauf achten kann, sich vor gesundheitsschädigenden Chemikalien, Schadstoffen oder PVC zu schützen, bis zum Nachweis einer entsprechenden umweltfreundlichen und humanen Produktion.
All das wissend kann man sich nun entscheiden, nehme ich einen »Chelsea Boots aus pflanzlich gefärbtem Leder, Schaft 100% Kalbsleder, Laufsohle aus Gummi« von Bottega Veneta für ca. 950 Euro, einen hochwertigen Naturkautschuk-Gummistiefel von Le Chameau für 400 Euro, einen schmissigen Aigle, Hunter oder Nokia aus Vollgummi und gefüttert für ca 150 Euro oder einen Cortina, wasserdicht, Obermaterial und Sohle synthetisch, textiles Innenmaterial für 20 Euro?
Ja, es ist eben überall das Gleiche auf dieser Welt.
Nachweis:
1 https://www1wdr.de„Stichtag“ vom 15.06.2019
2 https://www.hutchinson.com-aktuelles-Hiram Hutchinson: ein wagemutiger Amerikaner!-