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Die Farbe Orange

Farben drücken viel mehr aus, als man zunächst meint. Sie provozieren Stimmungen und zeigen Haltung. Die Farbe Orange ist auffällig, präsent, lebensbejahend, zuweilen auch aufdringlich. Michael Neubauer stellt euch in dieser Ausgabe des sisterMAG die Farbe Orange einmal genauer vor und unterrichtet über die Entstehung, die Hintergründe und Bedeutungen im Zusammenhang mit Orange.

  • Text: Michael Neubauer

Die Farbe Orange

Käme ich mit einem orangefarbenen Hut, einem Zweireiher in Orange und einer dazu passenden orangenen Krawatte ins Büro (ich bin ein Mann), so wären mir witzige Bemerkungen, vielleicht ein »jetzt dreht er ganz durch«, wenigstens aber ein Schmunzeln sicher. Orange ist auffällig, präsent, lebensbejahend, zuweilen auch aufdringlich – zumindest in der Männermode. Mögen sich Frauen, Stars der Mode- und Musikbranche damit schmücken, für den Alltag ist es nichts.

Farben drücken viel mehr aus, als man zunächst meint. Sie provozieren Stimmungen, zeigen Haltung, tun Bekenntnisse kund. Kein Wunder, dass Künstler diese Eigenschaften nutzen und in der Malerei allein durch Farben Zuversicht, Positives und natürlich auch das Gegenteilige ausdrücken.

Nehmen wir zum Beispiel das Werk »Abstraktes Bild (809-1)« des berühmten zeitgenössischen Malers Gerhard Richter aus dem Jahr 1994: Ein gelbgrüner Hintergrund schafft eine positive Grundstimmung, die durch regelmäßig quer verlaufende Farbbänder friedlich geordnet wird. Lediglich ein rotfarbenes Konvolut in der linken unteren Bildecke unterbricht diesen Frieden, der insbesondere durch das orangefarbene fröhliche Farbband in der Mitte des Bildes gestärkt wird.

Zu allen Zeiten nutzten Maler das »Gelb/Rot«, um sinnesfreudige, positive Gestalten und Stimmungen in ihren Werken zu kennzeichnen und hervorzuheben. Beispiele sind der Heilige Hieronymus in Marco Zoppos Pesaro-Altar von 1471, Karl Blechens »Bäume im Herbst bei Sonnenaufgang« von 1823, Oskar Kokoschkas »Spielende Kinder«“ von 1909 oder Paul Klees »Bergdorf Herbstlich« aus dem Jahr1934.

Auch in der Arbeit von Abel Martin, die wir in dieser Ausgabe vorstellen, wird der Betrachter von der Farbe Orange überfallen. Abels Werke sind das kreative Ergebnis einer künstlerischen Idee, geformt und gestaltet mit moderner Computertechnik: Streng geordnet, durch den Computer minutiös in eine sich ergänzende Harmonie gebracht, strahlt uns das Bild an. Eben Orange!

Orange – eine Farbe, die es erst seit dem vergangenen Jahrhundert unter dieser Bezeichnung gibt, Goethe nannte sie z. B. »gelbrot«. Gelb und Rot sind die Komponenten für zahlreiche Farbnuancen, die je nach Mischungsverhältnis sehr unterschiedlich sein können. Wenig helle Beimengungen ergeben ein »Braun«, Zusatz von Weiß, so die Farblehre, führt zu »Apricot«, viel Rot zu »Zinnober« und wenn das Gelb überwiegt, sprechen wir von »Safran« (siehe auch sisterMAG – Artikel, Heft 28-2/2017, S. 182).

Die Farbe Orange ist tatsächlich nach der süßsauren Frucht benannt. Die botanische Bezeichnung »citrus sinensis« verweist auf deren Urheimat China. Seefahrer brachten die Orange im 15. Jahrhundert erstmals über Portugal nach Europa, später erreichte sie als »Apfel aus China« (Apfelsine) Deutschland. Die Orange ist eine Kreuzung zwischen Mandarine und Pampelmuse. Sie wächst unter anderem auf riesigen Plantagen in Brasilien, China und Indien. Diese drei Länder machen ein Drittel der Weltproduktion an Orangen aus. In Europa verfügen lediglich Spanien und Italien (Sizilien) über nennenswerte Anbauflächen für die immergrüne Pflanze. Die Früchte werden ganzjährig angeboten, ihre Saison haben sie aber von November bis Juni. Die Orange ist nicht nur eine gute Vitamin-C-Lieferantin – bereits mit einer großen Frucht kann man den empfohlenen Tagesbedarf von 75 mg decken – auch Vitamin B1, Folsäure sowie der Mineralstoff Kalzium sind reichlich enthalten.

Das war am Anfang ihrer »Welteroberung« nicht bekannt. Im Vordergrund stand die wohltuende wärmende Farbe der Frucht, sodass sie – bis heute – als Schmuckelement bei Tischdekorationen, Empfängen und Festlichkeiten verwendet wird.

Die der Farbe nachgesagten positiven und aktivierenden Eigenschaften wirken sowohl auf Geist und Seele als auch auf unseren Körper. Das warme, leuchtende Orange hellt unsere Stimmung auf, gibt uns Antrieb und Lebenslust, es regt unseren Appetit und unsere Verdauung an.

Orange ist nicht nur eine Farbe, die individuell Freude, Geselligkeit und Frohsinn vermittelt, da sie Optimismus, Energie und Tatkraft symbolisiert, wird sie auch für politische Ziele eingesetzt.

So protestierten Wiktor Juschtschenko und seine Anhänger im Jahr 2004 unter der Wahlfarbe Orange gegen Wahlfälschungen der russlandfreundlichen Gegenseite im Rahmen der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Die wiederholten Proteste, Demonstrationen und Streikbewegungen wurden weltweit als „Orange Revolution“ bekannt.

Doch schon Jahrhunderte vor den Protesten in Kiew erlangte die Farbe „Orange“ politische Bedeutung: Das regierende Königshaus der Niederlande „Oranien-Nassau“ bezieht sich auf den 1530 erfolgten Zusammenschluss des Hauses Nassau und des Fürstentums von Oranien. 1560 übernahm Wilhelm I. von Oranien-Nassau (1533–1584) das von Frankreich noch besetzte Fürstentum und war damit Statthalter eines großen unter spanischer Fremdherrschaft stehenden Gebietes. Unter seiner Führung errangen die Niederländer ihre Selbstständigkeit. Die „Oranjes“ bezeichnen ihn noch heute als den Vater des Vaterlandes.

Der Urenkel Wilhelms, Wilhelm III. (1650–1702), besiegte am 11./12. Juli 1688 in der Schlacht am Boyne den katholischen englischen König Jakob II. (1633–1701) und brachte damit die Farbe Orange mit dem Protestantismus nach England und Irland. Noch heute feiern die protestantischen Iren jährlich an diesem Tag den Sieg über ihre katholischen Mitbewohner – über Jahre Anlass tiefreichender Konflikte in Nordirland. In der irischen Flagge steht Grün für die Katholiken, Orange für die Protestanten und dazwischen Weiß für Frieden zwischen den beiden Gruppen.

Unter dem Namen „Oranjes“ ziehen alljährlich auch die besten Fußballspieler der Niederlande in die Wettbewerbe der Zeit. Ihre Bilanz ist durchmischt: Dreimal wurden sie Vizeweltmeister – 1974, 1978 und 2010 – und einmal, 1988, Europameister. Nach Jahren des Niederganges erreichten sie in der neuen UEFA Nations League 2018 den Gruppensieg mit einem Sieg und einem Unentschieden gegen Deutschland.

Die Farbe Orange hilft uns auch, ganz alltägliche Fragen einzuschätzen, z.B. bei der Farbe des Eidotters: Je nach Jahreszeit zeigt uns die satte orangene Farbe des Dotters, ob die Hühner ausreichend Frischluft und grünes Gras zur Verfügung hatten. Tief orangefarbenes Dotter im Winter könnte auf die Zufütterung von Farbstoffen hinweisen, was bei Bioeiern nicht möglich ist.

Die Farbe Orange ist nicht die Lieblingsfarbe aller Menschen. Ihre Lebendigkeit, ihre Aktivität und Energie weckenden Eigenschaften empfinden manche als oberflächlich, aufgesetzt und aufdringlich. Auf jeden Fall aber signalisiert sie Aufmerksamkeit!

Diesen Effekt nutzen Einsatzwagen, Hubschrauber, Flugzeuge (easyJet) oder Fahrzeuge der Autobahnbetreuung. Und die Werbebranche knüpft daran an: Möbel, Taschen, Fahrräder, Verstärker, Musikinstrumente, Bauteile aus Holz und Steinzeug, selbst die digitale Zeitung „Orange“ beim Handelsblatt tragen die herausfordernde Farbe, um beachtet zu werden.

Die Farbe Orange hatte bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Hoch-Zeit. In Zeiten des Vietnamkriegs, des zunehmenden Terrorismusʼ und wirtschaftlichen Abschwungs sehnten sich die Menschen nach Frieden, nachhaltigem Umgang mit der Natur, nach Musik, Sport und freiem Leben. Orange war die richtige Farbe, um diese Gefühle nach außen zu demonstrieren. Schrill, gewagt und auffällig eroberte Orange die Mode, das Möbel- und Gebrauchsdesign.

Das Pantone Matching System ist ein sehr verbreitetes Farbsystem der amerikanischen Firma Pantone LLC. Mit abgestimmten Farbsystemen bedient sie Grafiker und Druckereien weltweit mit ihren umfangreichen Farbvorschlägen. Jährlich kreiert die Firma eine aktuelle Trendfarbe. 2019 ist das: Living Coral, das mit Orange gemischte Korallrot. Nach Pantone

»An animating and life-affirming coral hue with a golden undertone that energizes and enlivens with a softer edge.«

Das sisterMAG zeigt euch in dieser Ausgabe 45 viele Ideen für mehr Orange und Koralle im Zuhause und im Kleiderschrank. Die Fragen, ob und wieviel Platz die Farbe im eigenen Leben einnehmen darf und wie stark sie die Männermode erfassen wird, bleiben spannend.

Ich denke, ich werde meinen orangefarbenen Hut 2019 behalten und im sisterMAG-Büro tragen.