Rezension zum Katalog
Der Katalog „VENEZIA 500<<. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“ wurde vom HIRMER-Verlag München 2023 verlegt und begleitet die gleichnamige Ausstellung (27.10.23 – 04.02.24) in der Alten Pinakothek München. Herausgeber ist der Kurator der Präsentation Dr. Andreas Schumacher, die einzelnen Kapitel wurden von einem Kollektiv ausgewiesener Kunsthistoriker geschrieben. Der Katalog erscheint in broschierter Form in der Größe von 26,5 x 21,5 cm. Das ist erwähnenswert, weil die Gemälde in entsprechender Größe großartig zu betrachten sind. Darüberhinaus begleiten viele Abbildungen inhaltlich den Text.
Die Ausstellung ist logistisch, finanziell und personell ein Großunternehmen. Allein 43 internationale Leihgeber, Museen und private, haben zu diesem Event der Kunst in München beigetragen.
Die „Venezianischen Malerei“
hatte ihre große Zeit im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert. In 9 Kapiteln beschreiben die Autoren die Besonderheiten, die zu diesem Erfolg Venedigs in der bildenden Kunst geführt haben.
Einleitend lernt man Venedig in seiner Zeit um 1500 kennen. Es ist förmlich zu spüren, wie diese Stadt die Künstler zu ihren Arbeiten und den Kurator für diese Ausstellung begeistert hat. Allein die vorherrschenden Farben „Gelb-Rot, das Rosa, das Weiß und das tiefe Blau“ (S. 19), die umgebenden Hügellandschaften, in der Ferne die Gipfel der Südalpen, das Farbspiel des leuchtenden Marmors erzwingen einen Traum von Arkadien, führten die Pinsel von Bellini, Giorgione, Lotto, Tizian und Veronese. Diese Atmosphäre bestimmte trotz Zwistigkeiten und Kriegen das gesellschaftliche Leben Venedigs.
Die Landschaft rückte in den Mittelpunkt des Interesses und der Darstellung, Folge einer genauen Naturbeobachtung, um „für die schöpferische Natur selbst einen künstlerischen Ausdruck zu entwickeln“ (S. 24). Und durch die aktuell gewordene antike Literatur wurde die bukolische Lebenseinstellung modern.
Venedig wird Zentrum der zeitgenössischen Kunst um 1500,
man erfährt, wie unter Giovanni Bellinis (1435 – 1516) Kunst die anfänglich eher strenge Linienführung der Künstler weicher, verschwommener wurde, wie unter der bewußten Mischung zwischen Licht und Schatten Farben an Gewicht gewannen, die Werke eine freiere, freundlichere Aussage erzielten.
Private Kunstsammlungen von hohem Niveau entstanden, die die Kunstszenen von Venedig bis Padua bestimmten. Mäzene und Sammler wünschten sich Porträts in modisch höfischer Kleidung und zwangloser Haltung, so wie sich die Eilten auch in ihren Gesprächs- und Diskussionsrunden in privaten Salons („Ridotti“, S.40 ) trafen.
Zeichnungen und Druckgraphiken
gewannen in der Landschaftsdarstellung am Beginn des 16. Jahrhunderts große Beachtung. Vor allem Giulio Campagnola (um1482 – 1516) und sein Adoptivsohn Domenico Campagnola (um 1500 – 1564) beherrschten diese Szene mit kleinen Formaten. Strebte Giulio mit seinen Techniken nach Feinheit und Originalität (S. 97), betonte Domenico die schroffe Wildheit der Landschaft (S. 88). Kontakte zum graphischen Schaffen Giorgiones (1477 – 1510), Tizians (um 1488 – 1576) und auch Albrecht Dürers (1471 – 1528) werden umfangreich belegt.
Il ritratto di spalla
Das Schulterporträt („ritratto di spalla“) erfährt eine besondere Würdigung, zumal zu diesem Genre eine Begegnung Giorgiones (1477 – 1510) mit Leonardo da Vinci (1452 – 1519) bedeutsam ist, der 1500 Venedig besuchte.
Dem Frauenporträt
widmet sich ein eigenständiges Kapitel des Kataloges. Die Frau wurde meist in idealisierter Form, selbstbewußt und sinnlich dargestellt, wobei ihre emotionale Gestimmtheit allerdings im Rätselhaften blieb (S. 167). Schönheitsvorstellungen und – regeln spielten eine große Rolle.
Es folgen Interpretationen und umfangreiche Deutungen des Sujets.
Die venezianische Porträtmalerei
war neben der Landschaftsmalerei ein wichtiges Betätigungsfeld venezianischer Maler. Fremde Einflüsse, wie die des Römers Scipione Pulzone (1544 – 1598) und denen des in Sizilien geborenen Antonello da Messina (1430 – 1479) eröffneten die Diskussion zur Breite des Pinselstriches, zur Ansicht der Porträtierten, Profil, Dreiviertel- oder Frontalansicht, Darstellung platt in der Fläche oder plastisch herausgehoben und machten die Malerei in Öl populär. Ziel im Staate Venedig war immer, „das repräsentierte Amt darzustellen, dem die Individualität des Amtsinhabers unterzuordnen war“ (S. 196). Viele Handelsleute aus dem Norden Europas hatten enge Beziehungen nach Venedig und ließen sich hier porträtieren. An diesen Beispielen zeigt sich, wie im Laufe des 16. Jahrhunderts die Auffassung zum Porträt verändert wurde: „Freiheit und Beweglichkeit der (möglichst ganzen) Figur im Raum und und eine psychologisch motivierte Erfassung“ (S. 209).
Das neue venezianische Bildkonzept
erzeugte lyrische Qualitäten, Poesie und Ästhetik triumphierten. Darüberhinaus versuchte es anspielungsreich, Bilddetails einen übertragenen, bedeutungsvollen, aber auch vielsagenden Sinn zu geben. Allein für das Gemälde „Tempest“ (Das Gewitter) 1505/10 von Giorgione gibt es heute über 50 Deutungsversuche unter Kunsthistorikern (S. 72). Die Präzision in der Darstellung von Tieren, Bäumen, Felsen, Gebäuden – an flämische Akribie erinnernd – und das Bildarrangement von Personen, Heiligen und Mythen zur Umgebung erlauben eine allegorische Deutung, es animiert „zu einem denkenden Schauen“ (S.72).
Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei !
Bild: Michael Neubauer
Rezension
Beim Lesen des Kataloges sollte man wissen, dass ein Team aus Kunsthistorikern, Restauratoren und Naturwissenschaftlern seit 2021 die venezianische Renaissancemalerei im Bestand der Bayrischen Staatsgemäldesammlung durchforscht, bewertet und z.T. restauriert hat. Man spürt in jedem Artikel diese persönliche Nähe zu dem jeweils bearbeiteten Thema, erfährt eine immense Fülle an Fakten und Zitaten von Zeitgenossen, Es gelingt, Deutungsgedanken der Autoren und Wege kunsthistorischer Interpretationen zu verfolgen. Beispiele dafür sind die Aussagen zum Gemälde „Daphnis“, zugeschrieben Palma il Vecchio (1480 – 1528) und der Bronzestatuette „Syrinx spielender Hirte“ von Andrea Riccio (1470 – 1532). Diese Bemühungen zeigen sich auch bei den Schulterporträtbildern. Die Ausstellung zeigt Gemälde mit dieser Körperhaltung, deren Schöpfer aber immer noch in Diskussion sind. Der Autor gibt einen ausführlichen Einblick in die laufende Provenienzforschung, die aller Wahrscheinlichkeit auf Giorgione als Schöpfer hinweist. Ein ganzes Kapitel widmet sich diesem Thema zu Gemälden von Tintoretto, Veneto und Giorgione und man verfolgt mit Interesse, ja mit Amüsement die fast kriminaltechnische Klärung von Bildinhalt und -herkunft. Die fachliche Fülle fordert in einigen Passagen wohlwollende Geduld und aufmerksames Verständnis beim Leser, führt aber beim Studieren vor allem der einführenden Texte zu dem erfüllenden Gefühl, in der Stadt Venedig angekommen zu sein. Das alles von aktiven Kunsthistorikern geschrieben, heißt natürlich, man kämpft mit ausführlichen, langen Sätzen und nicht jedes Fremdwort ist dem Nichtfachmann bekannt. Die reichliche Bildausstattung des Buches gibt aber neben einem historischen, großartigen Stadtplan Venedigs von 1500 die Gelegenheit, sich zu entspannen. Sehr informativ ist ein Zeitplan der besprochenen Periode gekoppelt an die Geschehnisse in der venezianischen Kunst.
Der Katalog schildert das Thema „Venezianische Malerei 500<<“ in Bild und Text umfassend, wobei viele Passagen ungewöhnlich, aber erfreulich, in die Tiefe kunsthistorischer Erörterung gehen. Zur Nachbetrachtung eines Ausstellungsbesuches ist er sehr empfehlenswert.
Dr. Michael Neubauer