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Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne

Leonora Carrington
Großmutter Moorheads aromatische Küche, 1975
Öl auf Leinwand
79 x 124 cm
The Charles B. Goddard Center for the Visual and Performing Arts, Ardmore, Oklahoma
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Abbildung: The Charles B. Goddard Center for the Visual and Performing Arts, Ardmore, Oklahoma

1924 erschien von Andre Breton (1896 – 1966) in der neu gegründeten Zeitschrift „La Revolution Surrealiste“, Paris, das erste Manifest zum Surrealismus.

„Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten. Wenn die Tiefen unseres Geistes seltsame Kräfte bergen, befähigt, diejenigen der Oberfläche zu mehren oder sie siegreich zu bekämpfen, so haben wir allen Grund, sie aufzufangen, sie zuerst aufzufangen und danach, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen.“
Andre Breton: Manifest des Surrealismus (1924) erster Abschnitt.

Der gedankliche, eher gefühlsmäßige Ausstieg aus allem Bisherigen hatte Anfang der 1920iger Jahre verschiedene Ursachen. Hunger und Not waren die Normalität, die Erinnerungen an die Gräueltaten des Krieges allgegenwärtig, die Auflösung traditioneller Bindungen verunsicherte die Menschen. Rätselhaftes, Mystisches und Okkultes hatte Konjunktur. Sigmund Freud`s (1856-1939) Psychoanalyse mit seiner Traumdeutung kam zur rechten Zeit. 1921 hatte ihn Andre Breton in Wien besucht.

Vielleicht können wir es in der gegenwärtigen aufgewühlten Zeit sehr gut verstehen, welche Gedanken  Louis Aragon (1897-1982), Andre Breton und Paul Eduard (1895-1952) beseelten, als sie glaubten, all das Bisherige in Literatur, bildender Kunst, Fotografie und vieles darüber hinaus über den Haufen schieben zu müssen und eine neue Dimension des Denkens und Verständnisses zu kreieren. Anders als alle ihre Vorgänger, außer vielleicht den Romantikern und  Symbolisten, suchten und verstanden sie, dass beim Betrachten eines ersichtlichen Phänomens in der Tiefe unseres Geistes Bilder und Emotionen entstehen, die sich von der tatsächlichen Realität deutlich unterscheiden. Folgerichtig plädierten sie für ein rein assoziatives, von jeglicher Zensur des Verstandes freigehaltenes Schaffen in der literarischen und bildenden Kunst.   

 

 

Dorothea Tanning
Das magische Blumenspiel, 1941
Öl auf Leinwand
91,5 x 43,5 cm
Privatsammlung, South Dakota
© The Estate of Dorothea Tanning / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

War wirklich ein Blumenspiel, wie es heute viele gibt, gemeint? Eher nicht. Ein abgemagertes, trauriges Mädchenbild, vielleicht von einem überbordenden Blumenschmuck träumend, der die triste Umgebung (Krankheit?) ertragen läßt? mit der Hoffnung (blauer Himmel) auf eine Erlösung?

Dorothea Tanning (1897 – 1994) Bühnenbildnerin, entwarf Kostüme und war ab 1946 die Ehefrau von Max Ernst.

Einen wesentlichen Einfluss auf die für die gesamte Kunst revolutionären Gedanken hatte der Neurophysiologe und Psychoanalytiker Sigmund Freud. Er hatte 1900 mit seiner „Traumdeutung“ eine Theorie entwickelt, die aufzeigt, dass Träume verschlüsselte Hinweise für den Konflikt zwischen menschlichen Wünschen, Trieben, sexuellen Phantasien und Verboten sind. In einem Modell begründete er 1923, dass die menschliche Psyche aus dem „Es“, dem „Ich“ und dem „Über-ich“ besteht. Beschreibt das „Es“ unsere angeborenen, unsere unbewussten Triebe und Bedürfnisse, das „Ich“ unser bewusstes Tun und Denken, das Bild von uns selbst, beschreibt das „Über-Ich“ nach Freud unsere psychische Struktur, die unsere Normen, Werte, unseren gesellschaftlichen Auftritt bestimmt. Folgerichtig schlussfolgerten die Anhänger dieser Ansichten, dass es neben der Realität eine imaginäre, nur in der Psyche vorhandene Betrachtungsweise geben muss. 

 

Max Ernst
Einkleidung der Braut, 1940
Öl auf Leinwand
129,6 x 96,3 cm
Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, New York (Photo: David Heald)

Mit Ironie und Satire ergreift Max Ernst Partei für die Frau. Die auf die Geschlechtsmerkmale reduzierte Braut wird von üblen Tieren (Männern), mit Speeren (Phallussymbol) „bedroht“. Verklärend der maskierende Eulenmantel der Braut und die unschöne Andeutung einer späteren mühevollen Schwangerschaft. All das fehlt auf dem Wunschbild im Hintergrund. Gemalt hat es der Künstler als Hommage an seine damalige Partnerin, die englische Surrealistin Leonora Carrington (1917 – 2011)

Breton beschreibt es 1924 in dem ersten Manifest der Surrealisten: 

„…unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht. … Der Surrealismus beruhe „auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens“
Andre Breton: Manifest des Surrealismus (1924)

Viel zu ernst und fundiert, wahrhaft revolutionär war die „Ideologie“ der Surrealisten, als dass das anfänglich Gemeinsame mit den Dadaisten hätte halten können. Breton und seine Anhänger verurteilten deren Kunst als destruktiv.

Surrealistische Künstler gab und gibt es weltweit, einen besonderen Namen hat die Kunstrichtung jedoch in Belgien, wo sie zeitgleich mit der französischen entstand. Hervorragende Vertreter waren Rene Magritte (1898 – 1967) und Paul Delvaux (1897 – 1994). Trotz vieler Gemeinsamkeiten  grenzten sie sich theoretisch von Breton ab. Plädierte dieser vornehmlich auf das Spiel von Zufall und Schicksal, waren die Belgier der Meinung.

„…, für den Geist zu optieren, wird für jeden von uns eine Frage auf Leben und Tod.“
Paul Nouge, (1895 -1967 in Rene Magritte und der Surrealismus in Belgien, 1982, S. 19

Obwohl auch in Breton`s 2. Manifest  von 1929 Surrealismus als revolutionäre Bewegung deklariert wurde, führten unterschiedliche politische Ansichten zu Differenzen unter den Künstlern. Manche verließen die Gruppe, manche wurden ausgeschlossen.

Künstlerisch standen das Ästhetische und die Poesie im Vordergrund. Gemeinsam ist den surrealistischen Werken die genaue und präzise Zeichnung der Motive. Die Formen sind klar voneinander getrennt, ebenso die oft bedeutungsvollen Farben. Die Motive passen nicht zueinander, sind oft verfremdet dargestellt. Aber gerade durch diesen willkürlichen Widerspruch lassen sie poetisch getragene Umdeutungen zu. Das berühmte Zitat von Isidore Lucien Ducasse („Lautreamont 1846-1870)) „‘Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch’ zeigt auf, welche Assoziationen dieses willkürliche herbeigeführte Rendezvous dreier völlig unterschiedlicher Elemente hervorrufen kann.
Salvadore Dali (1904-1989) malte diese eigenwillige Kombination 1941. 

René Magritte
Schwarze Magie, 1945
Öl auf Leinwand
79 x 59 cm
Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Vermächtnis von Georgette Magritte, 1987
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Abbildung: Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel (Photo: J. Geleyn)

 

 

Es ist Georgette Berger (1901 – 1986) , Magrittes Frau, glatt und fehlerfrei malte er sie. Wäre da nicht, und da zeigen sich die verborgenen Gedanken des Meisters, das Oberteil in die Farben des Himmels getaucht. Hat sie der Himmel geboren, zu dem gemacht, was sie ist?

Die Poesie wurde durch Texte auf den Gemälden erweitert, aber auch hier nicht zur einfachen Erläuterung:
Zur Titelgebung seiner Arbeiten notierte Magritte, z.B. für sein Werk „Die leere Maske“

„Die Titel der Bilder sind keine Erklärungen, und die Bilder sind keine Illustrationen der Titel. Die Beziehung zwischen dem Titel und dem Bild ist poetisch, das heißt, daß diese Beziehung nur bestimmte Charakteristika von den Gegenständen festhält, die gewöhnlich vom Bewusstsein ignoriert, manchmal aber anlässlich außergewöhnlicher Ereignisse, die aufzuhellen der Vernunft durchaus noch nicht gelungen ist, vorausgeahnt werden.“
(Laudius „Kunstgeschichte-Surrealismus“, S.14)

Paul Delvaux
Anbruch des Tages, 1937
Öl auf Leinwand
120 x 150,5 cm
Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Abbildung: Solomon R. Guggenheim Foundation, New York (Photo: David Heald)

Viele Bilder des Belgiers Delvaux zeigen die Frauen im Eva-Kostüm. Verwurzelt stehen die 4 Damen auf ihrem Platz, vor ihnen eine entblößte Brust im Spiegel. Sie gehört zur fünften Frau. Sie steht vor dem Bild, wie der Betrachter, deshalb die Brust im Spiegel.
Im Hintergrund rennt eine Frau auf einen (heimkehrenden?)Mann zu. Wo mag er herkommen bei „Anbruch des Tages“?

 

Eine der interessantesten Strategien André Breton`s und seiner surrealistischen Künstlerkollegen war die frühzeitige Einbindung von Pablo Picasso (1881 – 1973) in ihre Bewegung. Sie hatten seine Rückkehr zum Figürlichen und auch zum Erzählerischen durchaus wahrgenommen, was ihren Vorstellungen entgegen kam.

Und dennoch muß, mehr noch als Picasso, Giorgio de Chirico (1888 – 1978), das heißt sein frühes Werk, als eine der tiefsten Quellen surrealistischer Inspiration betrachtet werden., schreibt  Patrick Waldberg in „Der Surrealismus“, 1965 Dumont, S. 17/19. Allerdings, als Chirico, der großer Plakatmaler der Träume – eines Tages anfing , „wie Renoir“ zu malen? Ohne Zweifel ging er da der Gnade der Surrealisten verlustig, …

Giorgio de Chirico
Das Gehirn des Kindes, 1914
Öl auf Leinwand
80 x 65 cm
Moderna Museet, Stockholm, erworben 1964
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Abbildung: Moderna Museet, Stockholm

 

Die Surrealisten erkannten in dieser Arbeit eine Aura unterdrückter Sexualität und erotischer Symbolik. André Breton kaufte das Gemälde sofort begeistert, nachdem er es in einer Galerie entdeckt hatte.  Er bezeichnete es als eines seiner wertvollsten Besitztümer.

Einen Zusammenhang mit Freud`schen Ideen (Ödipus-Komplex) bestritt Giorgio de Chirico.

Die Potsdamer Ausstellung „Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne“ spannt den Bogen von der „metaphysischen Malerei“ Giorgio de Chiricos um 1915 über Max Ernsts ikonisches Gemälde, „Die Einkleidung der Braut“ (1940) bis zu den okkulten Bildwelten im Spätwerk von Leonora Carrington und Remedios Varo. Gezeigt werden über 90 Arbeiten von etwa 20 Künstlerinnen und Künstlern. darunter Schlüsselwerke von Victor Brauner, Paul Delvaux, Leonor Fini, Wifredo Lam, René Magritte, André Masson, Roberto Matta, Kurt Seligmann, Yves Tanguy und Dorothea Tanning.

Maurice Blanchot (1907 – 2003 – französischer Journalist und Philosoph) schreibt 1944:

„Es gibt keine (surrealistische) Schule mehr, es besteht aber weiterhin ein solcher Geisteszustand. Niemand mehr gehört dieser Bewegung an, und jeder fühlt, daß er hätte dazugehören können … Der Surrealismus wäre verschwunden? Er ist vielmehr weder hier noch dort: Er ist überall! “
M. Blanchot, „La Part du Feu“, Paris 1944
Remedios Varo
Himmlischer Brei, 1958
FEMSA Collection, Monterrey
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Abbildung: FEMSA Collection, Monterrey
Waren es am Anfang in den 1920iger Jahren vor allem Männer, die den surrealistischen Ideen folgten, wurden um 1930 immer mehr Frauen in die Gruppe aufgenommen, Remedios Varo (1908 – 1963) gehörte zu  ihnen.


Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne
22.Oktober 2022 bis 29. Januar 2023
Museum Barberini
Alter Markt, Humboldtstraße 5-6
14467 Potsdam

Öffnungszeiten
außer dienstags von 10:00 Uhr bis 19:00 Uhr
alle weiteren Informationen über https://www.museum-barberini.de/