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Chaim Soutine – Gegen den Strom Kunstsammlungen NRW – K 20

Chaïm Soutine
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1925 Öl auf Leinwand, 98 × 80,5 cm Ancienne collection du baron Kojiro Matsukata affectée en
1959 au Musée national d’art moderne en application du traité de paix avec le Japon de
1952 Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne –
Centre de création industrielle bpk | CNAC-MNAM | Philippe Migeat

Natürlich ist es nicht die erste Ausstellung in Deutschland zu diesem aussergewöhnlichen Maler, zu Chaim Soutine (1893 – 1943).
1981 widmete sich das Westfälische Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte seiner Kunst und 1964 zeigte die documenta III einige Arbeiten von ihm. Bekannt wurde er durch zahlreiche Präsentationen vor allem dem amerikanischen Publikum (New York, Los Angeles, San Francisco, Washington), aber auch Museen und Galerien in Paris, London, Tokio und 1952 die Biennale in Venedig würdigten seine Gemälde. Ich berichte deshalb mit Freude davon, dass die Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen in ihrem Haus K20 eine grosse Einzelausstellung mit 60 Werken aus den frühen Schaffensjahren von 1918 bis 1928 zeigen. Mit dem Zusatz „Gegen den Strom“ charakterisieren sie nicht nur das schwierige, entbehrungsreiche Leben des Malers, sondern auch seine Sonderstellung mit seiner Kunst am Beginn des 20. Jahrhunderts.

 

 

 

Chaïm Soutine
Datum unbekannt /
Silbergelatineabzüge / 8,8 × 13,4 cm
mahJ, don d’Ariel Fenster photo © mahJ

„In der allerdunkelsten Ecke eines Cafes im Montparnasse sass Soutine. Er hatte die Augen des gejagten Wildes - vielleicht vor Hunger. Niemand beachtete ihn. “
Ilja Ehrenburg 1916, aus Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 12.12.1981

Chaim Soutine 

Vieles sprach für sein Abgeschiedenheit in Paris, wo er seit 1913 unter ärmlichsten und in schlechten hygienischen Verhältnissen in der Künstlersiedlung „La Ruche“ hauste. Zwar konnte er Amadeo Modigliani (1884 – 1920) seinen Freund nennen, hier traf er Marc Chagall (1887 – 1985) und andere, aber seine abweisende, zum Teil abstossende Art, unter der er zugleich litt, liess ihn zum Einzelgänger werden. Eine Mischung aus Hochmut und Scheu verdarben die Beziehungen zu denen, die versuchten, ihm zu helfen. Auf Hilfe, Zuspruch, vor allem menschliche Wärme war er immer angewiesen, aber von Geburt an vermisste er diese Wertschätzungen. Mütterliche Zuwendung fehlte ihm sein ganzes Leben lang, in den aus Sicht eines Kindes traurigen  Bildern „Mutter und Kind“ von 1919 und noch viel später 1943 in „Maternite“ drückte Soutine es aus.

Er war das zehnte Kind jüdischer Eltern. Unvorstellbare Armut, und ein streng nach dem jüdischen Glauben lebender Vater in einer orthodox-jüdischen Gemeinde nahe Minsk bestimmten die Kindheit. Sein früher Drang zum Zeichnen, unvereinbar mit dem zweiten noachidischen Gebot der Juden (Verbot des Götzendienstes, von Bildern), isolierte ihn schon als Kind von seiner Familie. Die Geschwister straften ihn mit Schlägen.
Zorn, gefühlter Widerstand, Selbstgefälligkeit waren die Folge, Eigenschaften, die seinen Charakter, aber auch seine künstlerische Arbeit stark beeinflussten. 

Nach einer kurzen Ausbildung in Minsk, besuchte Chaim Soutine für 3 Jahre die Ecole des Beaux-Arts in Wilna (Vilnius), 1913 erreichte er Paris. Weitere Jahre der Entbehrung lagen vor ihm, wieder musste er „Experte im Hungern“ werden, aber erste Werke entstanden.
Er malte nur das, was er konkret vor sich sah, das Besondere eines Gegenstandes war ihm wichtig, schon deshalb, weil das anschauliche, dingliche „Sehen“ bisher unter seines Gleichen so verpönt war. Oft  suchte er über Tage, ja zwanghaft ein bestimmtes Motiv. 

Ein Huhn sollte das Motiv sein. Ein freundlicher Metzger wollte ihm in guter Absicht ein dralles Exemplar anbieten, Soutine bestand auf einer ausgemerkelten, abgemagerten Henne.
Eine einfache Makrele malte er nur, wenn sie frisch vom Markt geholt, vor ihm lag.

Stillleben

Soutines Themenkreis war über die gesamte Zeit seines Schaffens klar abgesteckt: Stillleben, Landschaften und Porträts. In den frühen Jahren bewegte sich die Motivauswahl für seine Stillleben zwischen den essbaren Dingen, die ein Wochenmarkt anbietet. Fische der armen Leute, Brot, Zitronen oder Tomaten ordnete er um einfaches Geschirr ohne grosses Arrangement auf einem Tisch.

 

 

 

Chaïm Soutine
Stilleben mit Heringen 
1915-1916
Öl auf Leinwand /64,5 × 48,6 cmGalerie Larock-Granoff, Paris

 

 

 

Auf dem 1916 entstandenen Bild „Heringe mit Gabeln“ spürt man förmlich den Hunger, den dieses Bild beklagt. Wie ausgedörrte Finger nehmen die Gabeln von den armseligen Heringen Besitz.

 

 

Hängendes Geflügel, anderes (hängendes) Federvieh, ein gehäuteter Hase, Teile von Ochsen, ein grosser geschlachteter Ochse waren spätere Motive für seine Stillleben. In der Regel waren es Kadaver. Soutine malte das Ende allen Lebens, der Tod war ihm gegenwärtig, real, und seine unendliche Einsamkeit zog einen Wall des Zorns und der Ablehnung gegen alles um ihn.

 

 

Chaïm Soutine
Stillleben mit Fasan,
Um 1919 / ca. 1919
Öl auf Leinwand 92 × 60.5 cm
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Düsseldorf
Foto: Walter Klein, Düsseldorf

Seine Handlungen waren auffallend, ob bei der Motivwahl oder im Umgang mit Malerkollegen. Das Malen war ein Kampf gegen und mit dem Motiv, dabei verausgabte er sich bis zur Erschöpfung. 

Landschaften – Malen in Ceret

Ein ihm bekannter Galerist vermittelte ihn 1918 zu einem 3jährigen Aufenthalt in die südfranzösische Kleinstadt Ceret. Bäume, Strassen, Häuser, Landschaften entstanden in einem sehr eigenem Stil auf seinen Leinwänden. Die Formen biegen und winden sich, wirken wie deformiert, oft verzerrt. In prall gefüllten Szenen, der wahren Form entglitten, ordnen und „bewegen“ sich Bäume, Dächer und Häuser in Soutines eigenartiger Sichtweise. Personen fehlen in den Bildern. Neben dunklen Tönen, weißen Häusern, hellem Gelb, roten Dächern, Blauem und viel Grün deuten die formlosen Formen in die Zukunft des Abstrakten Expressionismus. Es sind Formen, die beim Betrachter die verschiedensten Assoziationen wecken können.
Angeregt durch Arbeiten von Paul Cézanne ordnete er die Bildflächen willkürlich, verdrehte Bildebenen, brach die Formen auf, komprimierte sie, verengte die Sichten, liess Statisches bewegen. Dabei erinnern die wogenden, „sich bewegenden“ Formen auch  an Vincent van Goghˋs Landschaften. 

Geniale Bilder! … die Chaim Soutine später verachtete. Er suchte nach ihnen und vernichtete sie. Sie erinnerten ihn an seine Phase der Armut und Entbehrung und er glaubte, mit ihnen traditionelle Malweisen verraten zu haben.

Kontakte zur europäischen Avantgarde hatte Soutine nie. Er studierte Bilder von Cezanne, van Gogh oder Bonnard im Louvre. In seinen späteren Jahren spielten Arbeiten von Gustave Courbet, Rembrandt und El Greco die grössere Rolle.

Porträts – Zwischenspiel in Cagnes-sur-Mer

Schon in Ceret, häufiger danach in Cagnes-sur-Mer, wo er sich neben Paris nach 1923 häufig aufhielt, entstanden viele seiner Porträts. Auch in diesen folgte Chaim Soutine seiner Neigung, Spannung zu erzeugen, indem er Strukturen verzerrte, Details unnatürlich vergrösserte, Bildebenen verschob. Häufig stellte er Männer in Berufskleidung dar. Hotelpagen, Kellner oder Köche, sie vertraten ihren Beruf, aber nicht die Persönlichkeiten dahinter. Dagegen sind seine weiblichen Darstellungen deutlich individueller.  

 

 

 

 

Chaïm Soutine
Der kleine Konditor,
1922/23
Öl auf Leinwand 73 × 54 cm
Musée de l’Orangerie, Paris bpk /
RMN – Grand Palais /
Thierry Le Mage

Soutines Bilder, die er in Cagnes malte, wirken freundlicher, heller und strukturierter. Die Landschaften vermitteln Heiteres, sind offener und für den Betrachter zugänglicher als die Ceret-Bilder.

Chaïm Soutine
Das Dorf,
Um 1923 /
Öl auf Leinwand 73.5 × 92 cm
Musée de l’Orangerie, Paris bpk /
CNAC-MNAM / Adam Rzepka

Das neue Leben

Aber nicht das sommerliche Klima Südfrankreichs veränderte von einem Tag auf den anderen das Leben Chaim Soutines, sondern der Winter 1922/23. Einer der grössten Privatsammler der Moderne, der amerikanische Arzt Dr. Albert C. Barnes, kaufte mehr als 50 Bilder des Malers. Chaim Soutine nun vermögend, sogar mit eigenem Chauffeur betraut, konnte auch diesem Glück keine echte Freude abringen. Trotz des Geldregens war seine Furcht, ihn zu verlieren, so gross, dass ihm die Gunst, alten Freunden helfen zu können, versagt blieb. Fast 20 Jahre mied er die alten vertrauten Plätze in Montparnasse. 

Dafür begann 1927 seine Freundschaft mit dem reichen französischen Ehepaar Madame und Monsieur Castaing. Sie wurden später Soutines Mäzene und Sammler. Ende der dreissiger Jahre lernte Soutine Gerda Groth kennen. Sie war Deutsche und aus ihrer Heimat geflüchtet. Mit ihr lebte er 2 Jahre zusammen bis sie 1940 interniert wurde. Symptome eines Magenleidens nahmen zu. Nach dem Einmarsch der Nazis wurde es für den Juden Soutine gefährlich. Er hatte bei Castaings die ehemalige Frau von Max Ernst, Madame Marie-Berthe Aurenche kennnengelernt. Geschützt durch Freunde, versteckten sich beide in einem Bauernhaus an der Loire in Champigny-sur-Vuede bei Chinon. 2 Jahre blieben ihnen. Im August 1943 perforierte sein bekanntes chronisches Magengeschwür. Die Operation überstand Chaim Soutine leider nicht. 

Kühn und vermessen, immer allein, geleitet nur von seinen Gefühlsausbrüchen, gestaltete Chaim Soutine eine Welt, die ohne Vergleiche lebt, die ihn als einen Aussenseiter seiner Zeit charakterisiert. In einer expressionistisch anmutenden, oft rauschhaften Arbeitsweise gelangen ihm Bilder in einer Technik, die zukünftige Malweisen vorwegnahmen. Neben den traumhaft schönen Landschaften und den eigenwilligen Porträts offenbaren die Tier-Stillleben zum Teil verstörende, gewöhnungsbedürftige Bilder. Auslöser dafür gab es leider in der Kindheit des Künstlers zur Genüge.

Chaïm Soutine
Chorknabe,
1927/28
Öl auf Leinwand 63.5 × 50 cm
Musée de l’Orangerie, Paris bpk /
RMN – Grand Palais /
Jean-Gilles Berizzi

Chaim Soutine. Gegen den Strom
2.9.2023 – 14.1.2024

Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, K20
Grabbeplatz 5
40213 Düsseldorf
Tel.: 0211 8381204

Öffnungszeiten
täglich 11 – 18:00 Uhr
montags geschlossen