Die Kunst des Kupferstechens ist eine ganz besondere. Die eher kleinformatigen Arbeiten erfordern viel Zeit und Kraft, handwerkliche Gewandtheit und immense Vorstellungskraft. Die seitenverkehrte Zeichnung wird dabei auf eine geglättete, dünne Kupferplatte aufgetragen, die vorher mit Kreide, Wachs oder ähnlichem beschichtet wurde. Erst dann kann die Gravur beginnen. Minutiös werden die Linien der Zeichnung mit einem sogenannten Grabstichel in das Metall geritzt. Tiefe, Breite und Dichte der Linien erzeugen das plastische Bild, flächige Areale und Tonabstufungen. Dabei wird der Stichel immer vorwärts getrieben. Nun kann die Platte mit Farbe bestrichen werden, so dass sich die Vertiefungen damit füllen. Nach Auflegen feuchten Papiers wird das Bild in einer Walze auf das Papier aufgedruckt.
Der große Vorteil des Verfahrens ist die Reproduzierbarkeit, sie ist 100, ja 1000fach möglich. Außerdem kann der Kupferstecher Linien löschen, verändern oder die Kupferplatte insgesamt neu polieren und für einen neuen Druck vorbereiten. All diese Gedanken begeisterten aufstrebende Köpfe der Renaissance. Albrecht Dürer erlernte die Technik des Kupferstechens bei Martin Schongauer und vervollkommnete sie. In Italien brachte sie Andrea Mantegna in Mantua zur Perfektion. Bald arbeiteten Kupferstecher in Manufakturen, um den Bedarf an Reproduktionen zu decken. Bekannte Künstler des Barocks (Rembrandt, Rubens zum Beispiel) nutzten den Kupferstich, um Reproduktionen ihrer Gemälde bekannt zu machen.
Und heute? Die Bild-Fertigung oder Reproduktion hat sich mit der Fotografie, neuen Druckverfahren und vor allem aber durch die digitalen Möglichkeiten revolutioniert. Eine Such-Anfrage an der traditionsreichen Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig zum Begriff »Kupferstich« geht so aus:
Personen kein Treffer
Seiten kein Treffer
Veranstaltungen kein Treffer
Also nicht mehr aktuell? Das stimmt nicht. Es ist selten geworden.
Denn mit Baldwin Zettl lebt in Deutschland ein Kupferstecher, der die großen Traditionen an Umfang und künstlerischem Ausdruck vergangener Jahrhunderte fortführt. Viel zu wenig beachtet, findet zur Zeit bis zum 28.10.2018 eine umfangreiche Ausstellung seiner Werke (30 Arbeiten) im Chor der Petrikirche im sächsischen Freiberg statt.
Baldwin Zettl studierte bis 1969 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig unter anderem bei Werner Tübke. Er beschäftigte sich schon während des Studiums mit der Kupferstichtechnik. Seine Diplomarbeit war ein Kupferstichzyklus zu Theodor Storms »Schimmelreiter«. Diese Verbindung zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts durch Bearbeitung von Zyklen, Buchillustrationen und Gedichtinterpretationen kann man auch in Freiberg hervorragend verfolgen. In die filigranen, oft über die literarischen Aussagen hinausgehenden Darstellungen muss man sich »hineinarbeiten«, das Verständnis mancher Kapitel bedarf Zeit und Ruhe. Jedes Bild enthält unzählige, gedrängte Details zum jeweiligen Thema, oft in irrealen Ebenen. Das ganze Dasein scheint sich hier zu zeigen, durchaus nicht immer schön und anmutend, aber ist das Leben immer schön?
Die Interpretation des Gedichtes »Weltende« des deutschen Expressionisten Jakob van Hoddis (1887 – 1942) mag dafür an dieser Stelle stehen:
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Baldwin Zettl
Bildcredit: M. Neubauer
Fast musste ich bei diesem Bild an Genua und die Morandi-Brücke denken, unser Leben!
Zur Ausstellungseröffnung laudierte der ehemalige Direktor der Gemäldegalerie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden Herr Dr. Harald Marx das hervorragende Schaffen Baldwin Zettls vor allem an einem Bild: »Der Weltvermesser«.
Baldwin Zettl
Bildcredit: M. Neubauer
Eine nackte, ausgemergelte männliche Figur füllt das Bild überdimensional aus, weit aufgerissene starre Augen signalisieren Angst und Überdruss. Der Mann rennt mit weit ausladendem Schritt gestützt auf eine rechtsseitige Gehhilfe und eine Messlatte links. Der linke Fuß verlässt bereits das Bild … oder das bunte tätowierte Leben (?), die Hürden der Berge und Täler überspringend, das Lebensübel mit verzerrtem Gesicht ausspeiend. Das Ergebnis der Vermessung sollte uns aufrütteln!
Welche Plastik auch in diesem Bild. Obwohl nur Nuancen zwischen Schwarz und Weiß zur Verfügung stehen, leuchtet der sternenbedeckte Himmel, die Anatomie der Muskeln, das Relief der Haut zeigen die meisterliche Arbeit.
06.09.–28.10.2018
Kupfersticharbeiten von Baldwin Zettl
Petrikirche in Freiberg
Petriplatz 7
09599 Freiberg
Täglich außer sonntags 11–14 Uhr
Eintritt frei
Weitere Ausstellungen befassen sich mit dem umfangreichen Werk Baldwin Zettls und sind allen zu empfehlen:
gestochen scharf
07-09. – 21.12.2018
Universitätbibliothek Erfurt,
Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt
Mo bis Fr 10–17 Uhr
Grafik Reigen
23.09.2018 – 13.01.2019
Gellert-Museum Hainichen,
Oederaner Str. 10, 09661 Hainichen
So bis Do 13–17 Uhr und nach Vereinbarung