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Alberto Giacometti in Sent (Schweiz/Unterengadin)

Foto: Alamy

Als Liebhaber der klassischen Moderne sollte man sein Geld nehmen, für genügend Zeit sorgen und das Auto nach Süden rollen lassen. Am besten überquert man von Füssen kommend den Fernpass und fährt nur wenige Kilometer von Imst auf der Inntal-Autobahn Richtung Bregenz, um dann durch den Landecker Tunnel fahrend die Schweiz zu erreichen. Wir sind im Engadin, einem landschaftlich reizenden Tal, das in Jahrhunderten durch den Inn geprägt wurde.

Unterengadin
Foto:  Michael Neubauer

Nach ca. 60 Kilometern, kurvenreich, an hohen Felsenwänden vorüber, immer mit einem Blick auf die weit ansteigenden Hänge zu beiden Seiten erreicht man, seitlich der Hauptstraße gelegen, die Gemeinde Sent, eines der größten Unterengadiner Dörfer mit 896 Einwohnern.
Sent
Foto: Michael Neubauer

Schmale Gassen, ein typisch traditioneller Baustil der Häuser mit unregelmässig angeordneten Fenstern, Häuser mit einem typisch Senter Giebel, schrägen Fenstergewänden und viele bemalte und unbemalte Häuser laden mit ihrer „Bancporta“, der Bank neben der Tür, mit einem herzlichen „Allegra“ zu einem Schwatz ein. Das Plätschern der zahlreich aufgestellten mit Blumen geschmückten Brunnen lädt zum Verweilen ein, gern mit einem Stück Nusstorte in der Hand. Ja, Bäcker, Fleischer, Handwerker jeglicher Gewerke, Landwirtschaft und Tourismus prägen dieses Kleinod. So nähern wir uns einer ganz besonderen, ja wertvollen und noblen Herberge, die uns nicht nur mit einer gemütlichen Übernachtung zwischen mit Arvenholz beschlagenen Wänden, einer bemerkenswerten Gastronomie zu allen Tageszeiten und das in sehr gemütlichen Räumen überrascht, sondern auch noch mit einem Museum, einem ganz besonderen: Die Pensiun ALDIER. 

Museum: Dienstag – Sonntag von 12:00 bis 18:00 Uhr
MONTAG RUHETAG
bis 17.10.2021

Pensiun Aldier
Foto: Michael Neubauer

AL steht für ALberto Giacometti (1901 – 1966), DI für DIego Giacometti, seinen Bruder (1902 – 1985) und ER für ERnst Scheidegger (1923 – 2016), ein Züricher Galerist und Fotograf, der das Wirken der Giacomettis in seinen Bildern festhielt. In allen Räumen des Hotels findet man diese Bilder von Alberto Giacometti und spürt unwillkürlich die Nähe zu diesem Ausnahmekünstler. Die im Museum des Hotels gezeigte Ausstellung eines großen Teiles des  grafischen Werkes von Alberto Giacometti geht auf die Sammlung des passionierten Kunstsammlers und Hoteliers Carlos Gross zurück. Er hatte die geniale Idee, seine Zeichnungen und Druckgrafiken Alberto Giacomettis dort zu präsentieren, wo der Künstler seinen Ursprung hatte, wo er unter der Aufsicht seines Vaters Giovanni seine ersten künstlerischen Schritte gemacht hatte. Seit seinem 2. Lebensjahr wuchs Giacometti in Stampa, einem kleinen Dorf im Bergell, südlich des Maloja-Passes, auf. Hier malte er schon mit 12 Jahren sein erstes Ölgemälde und formte die Köpfe seiner Geschwister aus Plastilin. Die Familie prägte Giacometti zutiefst. 1919 begann er das Kunststudium an zwei Kunsthochschulen in Genf, setzte es aber schon nach 1922 in Paris an der Bildhauerklasse von Antoine Bourdelle fort. Diego, sein Bruder, folgte ihm nach Paris und teilte mit Alberto Leben und Arbeit bis an dessen Lebensende. Schon mit  25 Jahren ließ sich Alberto in seinem berühmten, beengten Pariser Wohnatelier in der Rue Hippolyte-Maindron nieder, das er bis zum Lebensende behielt. Kubistische Vorbilder prägten zunächst seine Arbeiten (Bildhauer Henri Laurens und Jacques Lipchitz), die 1926 in der bronzenen Skulptur „Composition“ oder 1929 in der vielbeachtenden Skulptur „Tete qui regarde“ mündeten. Die Bekanntschaft mit der jungen Pariser Avantgarde schloß ihn in den Kreis der Surrealisten ein, ein Beispiel aus dieser Phase ist „Boule suspendue“, Die Schwebende Kugel, aus dem Jahr 1930. Die Pariser Presse und Kunsthistoriker nahmen zunehmend Notiz von ihm.

Aber Mitte der Dreißiger Jahre wurde sein Wunsch, nach dem lebenden Modell zu arbeiten, immer stärker und die Verbindung zu den Surrealisten und ihrer Kunst löste sich. Den Zwiespalt zwischen menschlichem Modell und abstrakten Formen, in dem sich der suchende Bildhauer um 1940 befand, beschrieb er rückblickend: 

„Ich sah wieder die Körper vor mir, die mich in der Wirklichkeit anzogen, und die abstrakten Formen, die mir als Plastiken etwas Wahres auszusagen schienen, doch ich wollte jene machen, ohne diese zu verlieren, sehr verkürzt ausgedrückt. “
Studium Kunstgeschichte, Studienmaterial, Kapitel 29/S.23

Femme couchée, 1960
Lithografie, 65,1×49,8 cm
Verleger: Maeght, Lust 34
Foto: Michael Neubauer

Neben seinem grafischen Werk entstanden Miniskulpturen, die seinem gewollten Eindruck, die Figur als Gesamtform zu sehen, entsprachen, wenn er die Personen auf Distanz sah. Die Figurinen zelebrierten die Zerbrechlichkeit im Gegensatz zur Festigkeit des Materials. Der Krieg brach aus, Alberto Giacometti ging nach Genf und lernte hier seine spätere Frau Annetta kennen. 

Nach der Rückkehr Giacomettis nach Paris zeichnete er überhöhte Strichfiguren, deren Gestalten auch seine Skulpturen bestimmen sollten. Sie wurden größer, schlanker und immer bekannter. 

Trois Figurines, 1959
Radierung, 27,3×19,9 cm
Lust 105
Kornfeld &Klipstein, Bern
Foto: Michael Neubauer

Seine Beteiligung an großen Ausstellungen vor allem in Amerika machten ihn nach dem Krieg auch international bekannt, bald auch in Europa. Der Durchbruch war geschafft. Alberto Giacometti ist heute einer der bedeutendsten Vertreter der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts.

Objet inquietant, 1965
Lithografie, 66×48,3 cm
Lust54
Verleger Maeght
Foto: Michael Neubauer

Besonders auf diesem Bild sieht man,
mit wie wenigen Strichen Giacometti
in der Lage war, eine Situation („das Besorgnis erregende Objekt“) zu charakterisieren: 

  • Blick auf den Gegenstand auf den Boden
  • der Wille zum Bücken danach
  • Vorsicht und eine gewisse Unentschlossenheit

Die Ausstellung in Sent beschränkt sich auf die grafischen Werke der Sammlung Carlos Gross, die nahezu das gesamte grafische Werk Giacomettis umfasst.  Gut 100 Exponate zeigt das Museum. Um sein Schaffen zu verstehen, muß man eine allseits bekannten Aussage von ihm kennen: 

„Seit jeher waren Bildhauerei, Malerei oder Zeichnung für mich Mittel, um mir über meine Sicht der äusseren Welt klar zu werden, vor allem über das Gesicht und die Gesamterscheinung des Menschen … die Kunst (ist) ein notwendiges Mittel, um mir ein wenig besser darüber klar zu werden, was ich sehe. “
Alberto Giacometti. Die öffentliche Sammlung Carlos Gross in Sent. Verlag Scheidegger & Spiess, 2016, S. 28

Buste d’homme, 1964
Lithografie, 67,9×49,8 cm
Lust 42
Verleger Maeght
Foto: Michael Neubauer

 

Dabei würdigte er die Zeichnung als die Grundlage für alles weitere. Neben Zeichnungen nahmen Druckgrafiken zu allen Zeiten einen großen Raum seines Schaffens ein.

In jeder beliebigen Situation hielt er Momente mit wenigen Strichen fest. Um seinen harten Bleistiftzug schlingern sich weiche Radiergummistriche …

Atelier II, 1954
Lithografie, 50×65,5 cm
Lust 15
Verleger: Maeght
Foto: Michael Neubauer

Druckgrafiken fanden ihre Bestimmung als Illustrationen in Büchern, z.B. bei Erstausgaben, in Kunstbüchern, aber auch als eigenständige Werke. Im Vordergrund seiner Themen rangierte das Atelier mit allem, was sich dort stapelte, bewegte oder von der Ferne nicht zu erkennen war, die Dinge selbst, aber auch ihr Verhältnis zueinander. Dafür benötigte er nur wenige Striche, die den von ihm erhaltenen Eindruck der Dinge wiedergaben. Auch Porträts enger Verwandter, von Freunden und Kollegen ergänzen das Schaffen, ebenso wie Bilder seiner Heimat, seines Zuhauses in Stampa, vor allem Bildnisse seiner geliebten Mutter Annetta (1871 – 1964). 

L`atelier 1955, 1956
Lithografie, 65,1×49,8 cm
Lust 25
Verleger: Schweizerische
Graphische Gesellschaft
Foto: Michael Neubauer

Montagne a`Maloja, 1957
Lithografie, 50,8×65,9 cm
Lust 28
Verleger: Kornfeld & Klipstein
Foto: Michael Neubauer

In all den Pariser Jahren kehrte er deshalb häufig in seine Heimat ins Bergell, nach Stampa, zurück.

Auch wir sollten nach einem beeindruckenden Museumsbesuch, einem tollen Abendgericht in der Pensiun „Aldier“ und einem unvergesslichen Frühstück die Weiterreise in das Oberengadin antreten, um den Lebensmittelpunkt Giacomettis in seinen jungen Jahren, in Stampa, kennenzulernen. Vorbei an dem idyllisch gelegenen St. Moritzersee, dem Silverplaner- und dem Silsersee, in den der in 2.500m Höhe entsprungene Inn mündet, vorbei an Maloja stürzen wir uns passabwärts in das eigentliche Bergell. 3 km hinter Bregaglia landen wir in Stampa, wo ein „Centro Giacometti“ (Dienstag bis Sonntag: 10:00 – 12.00 & 15:00 – 17:00) unsere Eindrücke vertiefen wird. Nur wenige Kilometer weiter, und wir sind in Italien …

Stampa, 1964
Lithografie, 65,1×47,9 cm
Lust 46
Verleger: MAEGHT
Foto: Michael Neubauer

September 2021
Michael Neubauer

Ein Teil der Angaben berufen sich auf den Text des sehr schönen Kataloges „Alberto Giacometti. Die öffentliche Sammlung Gross in Sent“ aus dem Verlag Scheidegger&Spiess AG Zürich, 2016.