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Wer war JUDIT REIGL? NEUE NATIONALGALERIE BERLIN. „KRAFTFELDER“

Judit Reigl
Kraftfeld, 1958
Center of Dominance
Öl auf Leinwand / Collection Kálmán Makláry, Budapest
© Fonds de Dotation Judit Reigl
Foto: Dr. Josef Böhm

Judit Reigl – 1923 bis 2020

Im Frühjahr 2022 zeigte die Budapester Galerie Longtermhandstand „Arbeiten auf Papier 1954-2019“ der ungarisch-französischen Künstlerin Judit Reigl.
In dieser Zeichenserie mit dem Namen „Dance of Death“ fasste sie die Episoden und Erfahrungen eines kreativen Lebens zusammen. Sie erinnerte mit ihren Zeichnungen an Werke von Lucas Cranach, Albrecht Dürer, Taddeo Gaddi, Hendrick Goltzius, El Greco, Hans Baldung Grien und andere Meister, deren Werke sie während ihrer Studienzeit erstmals im Museum bewunderte und kopierte.

In ihrem letzten Lebensjahr sagte sie dazu:

„Auch wenn mein Oeuvre malerisch abgeschlossen ist, ist das, was ich in letzter Zeit zeichne, wie die Zugabe eines Musikers nach einem anstrengenden Konzert … Ich bin schon müde, bevor ich anfange, aber es tut gut, zu zeichnen, und so viel Kraft es auch kostet.. “
Judit Reigl bei Langzeithandstand, 11.4.-4.5.2022

Das konnte sie bis ins hohe Alter. Selbst als die Sehkraft nachließ, blieben ihre Erinnerungen an das Gesehene und Erlebte unvermindert präsent, gleich ob sie sich der Zerbrechlichkeit des Alters widmete oder die Erinnerung an jugendliche Lebhaftigkeit festhielt. 

Judit Reigl war nach dem Zweiten Weltkrieg eine der originellsten Künstlerpersönlichkeiten und eine der wichtigsten unter den Malern Europas.

 

 

Judit Reigl:
Mass writing,
1960,
Öl auf Leinwand, 230 x 205 cm Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie,
geplante Schenkung Fonds de dotation Judit Reigl,
Neue Nationalgalerie, Berlin
© Fonds de Dotation Judit Reigl 

 

Ihre „Massenschriften“ wurden vom surrealistischen Automatismus beeinflusst, spontane Formzusammenstellungen führten zu figurativen Elementen. Diese mündeten schließlich in der Serie „Mensch“, wie an diesem Gemälde erkennbar.

Für viele ist die Künstlerin noch eine Unbekannte, warum?

Judit Reigl wuchs in der nordungarischen Kleinstadt Kapuvar auf und studierte für 5 Jahre bis 1946 an der Ungarische Akademie der Schönen Künste in Budapest. Danach lernte sie während Studienaufenthalten in Rom und Venedig Werke der europäischen Avantgarde kennen.
Die politische Entwicklung in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings trieb sie 1950 auf abenteuerliche Weise zur Flucht in ein freies Land, nach Paris. Damit war sie für osteuropäische Kulturfunktionäre zur Unperson geworden, ihre Kunst für diesen Teil Europas nicht existent.
Ausserdem ist die aktuelle Berliner Ausstellung „Kraftfelder“ die erste museale Einzelausstellung in Deutschland. Die Nationalgalerie besitzt damit als erste öffentliche Sammlung in Deutschland Werke dieser Künstlerin.
Deshalb kennen sie nur wenige.

Judit Reigl. –
Ihr Surrealismus –
in der Mitte „Unvergleichliches Vergnügen“ (1952/53)
Ausstellungsansicht
Neue Nationalgalerie
© Staatliche Museen zu Berlin/
Foto: Dr.Josef Böhm

Es war nur eine kurze Liebe für den Surrealismus …

In Paris lernte sie André Breton kennen, der sie für den Surrealismus einnahm. Mit dieser figurativen Technik und seiner Hilfe präsentierte sie 1954 ihre erste Ausstellung in seiner Galerie Étoile Scellée in Paris.

Aber Surrealismus? War es das, was sie suchte? 

Natürlich gefiel ihr, sich im Malen von Gefühlen, Intentionen, von Stimmungen führen zu lassen, aber auch der Zufall, impulsive Eingebungen, vielleicht auch Automatismen sollten ihre Werke zunehmend bestimmen. Das war mit einer gegenständlichen Malerei nicht möglich. 

  das Abstrakte, das alles durchdringt, ist nicht greifbar;
in jedem Augenblick,
in jedem Ding,
liegt die Ewigkeit.“   

von Tachismus-Künstler Alfred Otto Wolfgang Schulze, seit 1937 als Künstler Wols genannt, in seinem Katalog von 1947

… eine feste Bindung erschloss sich im „Prinzip der Formlosigkeit“, in ihrem Auflösen und Werden

Die Wege zum französischen Informel/Tachismus, zu George Mathieu, Wols oder Michel Tapie waren gebahnt, wobei sie auf figurative Elemente nie völlig verzichtete. Der angebliche Gegensatz zwischen Figuration und Abstraktion existierte für sie ohnehin nicht. 

Sie begann in Serien zu arbeiten. Ihren Bruch mit dem Surrealismus stellte sie in der Serie „Outburst“ von 1956 dar, die Serie „Kraftfeld“ folgte.
„Kraftfeld“ (1959), „Massenschrift“ (1960) und das großformatige Triptychon „Mensch“ (1967-1969) übergibt der „Fonds de dotation Judit Reigl“ aus Anlass der Berliner Ausstellung als großzügige Schenkung an die Nationalgalerie.

 

Judit Reigl:
Ausbruch / Outburst, 1956
,
Öl auf Leinwand / Oil on canvas, 143 x 149.5 cm,
Privatsammlung / Private Collection , Ungarn / Hungary
© Fonds de dotation Judit Reigl 

 

 

Das Material explodiert, ein konstruktiver und destruktiver Kampf von Materie und Energie zugleich. Wo enden die Bewegungen, der Blick wandert unwillkürlich über den Rahmen hinaus.

Die „Guano“-Bilder (1958-1965) schloßen sich an, die Serie „Mensch“ bearbeitete sie Anfang der 1970iger Jahre bevor sie mit ihren „Entfaltungen“ (1973-1985) zur Abstraktion zurückkehrte. Aber ihr Interesse am menschlichen Körper zeigte sie in ihren Serien „Art of the Fuge“, „Volutes, Twists, Columns, Metal“, „Hydrogen, Photon, Neutrinos“, „Entrance-Exit“ oder „Priceles Body“,  die sie in den 1980er und 1990er Jahren in Angriff nahm, unverändert. Die Serie „New York, 11.September 2001“, Bilder mit fallenden männlichen Körpern, beschäftigte sie fast 6 Jahre. Bei ihren figurativen Darstellungen behandelte sie Menschen immer als universelle Geschöpfe, weder als Mensch noch als Frau. 

1963 ließ sich Judit Reigl in Marcoussis, einem Dorf in der Nähe von Paris, gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin, der Bildhauerin Betty Anderson, einer Schülerin von Henry Moore, nieder. 

Was ist das Besondere an der Kunst Judith Reigls

Judit Reigl,
Man, Tripychon,
1967-1969,
Öl auf Leinwand, 232,4 x 199,4 cm; 241,3 x 198,1 cm; 232,4 x 208,3 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, geplante Schenkung Fonds de dotation Judit Reigl / Neue Nationalgalerie, Berlin
© Fonds de Dotation Judit Reigl
Die figurativen Elemente sind aufsteigend zu erkennen, und auch hier: es ist schwierig, die Teile der Frau im Mann oder die Teile des Mannes in der Frau zu unterscheiden, sie wollte es so!

 

„Malen ist eine körperliche Aktivität, ein innerer Akt. Die mit instinktiven, spontanen, zufälligen Bewegungen und Gesten des Körpers entstandenen Gemälde sind flüchtige Spuren des Malaktes und des Körpers des Künstlers. ..“
Zur Malweise Judith Reigls: Galerie Kálmán Makláry Fine Arts vom 8. September 2020

Das erste Gemälde, dass Judit Reigl als noch 16jährige zutiefst beeindruckte, war Gustave Courbets „Wrestler“,  sie sah es bei ihren Besuchen der Budapester Ungarischen Nationalgalerie. Hier, umgeben von Kunst des Mittelalters bis ins 20. Jahrhundert entwickelte sie ihre Visionen und Vorstellungen. Versionen des Wrestlers malte sie mehrfach nach, eine davon ist im Musee Maillol Paris zu sehen. 

Man kann annehmen, dass Judit Reigl überzeugt war vom komplexen Rhythmus wiederkehrender Formen, die sich im Raum und der jeweiligen Zeit mehr oder weniger behindert in der Kunst bewegen. Grenzen, Abgrenzungen bestimmte sie selbst, so wie es ihr Gespür gebot. Theorien waren ihr fremd. Wichtig waren ihr die Materialien, die Leinwand, Papierrollen, Holz und ihre Werkzeuge, die sie zum Teil selbst fertigte. Ihre Technik war eigen. Mit resoluten Pinselstrichen oder gar mit bloßen Händen trug sie leuchtende und gesättigte Farben Schicht für Schicht auf die Leinwand. Dabei suchte sie ständig neue Maltechniken zu erforschen. 

„Im Sommer 1955 begann sie mit einer neuen Malmethode zu arbeiten, dem Farbwerfen. Reigl warf das aus industrieller Pulverfarbe und Leinöl gemischte Material auf die Leinwand und arbeitete mit einer gebogenen Gardinenstange, später mit einem Schwert oder Metallband mit einer flexiblen, biegsamen Stahlklinge, um die Farbmassen aufzubrechen … “
Zur Malweise Judith Reigls: Galerie Kálmán Makláry Fine Arts vom 8. September 2020

 

 

Sie war, nach ihren eigenen Worten, „eine Malerin, die für viele wie ein Mann malt“.
„Ich arbeite mit meinem gesamten Körper und der Reichweite meiner Arme“, erklärt sie
Tate, Gallery label, May 2008

 

Judit Reigl in ihrem Atelier in Marcoussis,
1964
© Fonds de Dotation Judit Reigl 

„Der auf Gefühl und Spontaneität beruhende körperliche Malvorgang ist für sie dabei ebenso bedeutend wie der technische Aspekt, angefangen von der Wahl der Leinwand bis zur Herstellung ihrer eigenen Malwerkzeuge. Darin liegt der Wert ihres Beitrags zur Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. “
aus Pressemitteilung zur Berliner Ausstellung vom 28.06.2023

 

 

Judit Reigl:
Entfaltung / Unfolding, 1976
,
Acryl und Glycerinphosphat auf Leinwand /, 195 x 220 x 3 cm,
Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne – Centre de création industrielle
© Fonds de dotation Judit Reigl (photo: bpk / CNAC-MNAM / Philippe Migeat) 

Judit Reigl. Kraftfelder

Kulturforum, Neue Nationalgalerie
Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin
Di – Mi 10 – 18 Uhr, Do 10 – 20 Uhr, Fr – So 10 – 18 Uhr 

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im DCV Verlag (Deutsch/Englisch, 88 Seiten, Museumsausgabe 19 Euro; Buchhandelsausgabe 28 Euro). Es ist die erste Publikation über die Künstlerin in deutscher Sprache.