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Timo Ungerer. It’s all about freedom

„Yvonne und ich verließen 1971 New York City, Hals über Kopf. Wir hatten das Stadtleben plötzlich satt: Auf einem highway dahinjagend war unserem Leben der Treibstoff ausgegangen; wir hatten uns festgefahren, und so schlugen wir zu Fuß den erstbesten Seitenweg ein und erwarteten nicht einmal das Unerwartete.“
"Heute hier morgen fort“, Diogenes 1988, S.9)

Tomi Ungerer
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertol
Copyright: Info: 2670px x 3822px / 2.05 MB / JPEG

Tomi Ungerer! Das sind die ersten Zeilen in seinem 1988 veröffentlichten, reich von ihm bebilderten  Buch „Heute hier morgen fort“. Er beschreibt darin fast 10 Jahre Leben in der kanadischen Wildnis. Auf einer Halbinsel in Neuschottland, die  nur bei Ebbe über das Watt erreichbar war, gründete er mit seiner Frau Yvonne Wright eine Farm. In enger Beziehung zu den Einheimischen erlernten sie das harte Brot eines Landwirts: Äcker bestellen, Vieh weiden, Tiere schlachten, Zäune bauen und nebenbei Zeichnen, Malen … „Mein Leben war ein Märchen, ein Leben mit allen Monstern“, die so manche Illusion zerplatzen ließen, aber nie den Lebensmut, den Optimismus zu Neuem untergraben konnten. 

Tomi Ungerer: Vive Mikey et LS FR, 1938
Bleistift, blaue Tinte und Buntstifte, 33,7 × 26 cm
Sammlung Musée Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg
Copyright: Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate
Info: 3051px x 3982px / 2.61 MB / JPEG

Der als Jean-Thomas Ungerer im französischen Elsaß, am 28.November 1931 in Straßburg geborene Tomi Ungerer war ein Freigeist, ein den Menschen ohne wenn und aber Zugewandter, einer mit Ideen und  Kreativität in besonderer Weise Gesegneter. Immer mit seiner elsässischen Heimat verbunden, durchwanderte er die Welt ganz auf seine Weise. Schon als Jugendlicher, die  Schule hatte er kurz vor dem Abitur mit der Aussage seines Direktors: „ Er ist von einer „gewollten Originalität“ der Perversität und Subversivität“ beendet, jobte er als Schaufensterdekorateur, heuerte auf einem isländischen Fischkutter an, arbeitete später als Kameltreiber in der Sahara und begab sich zur Abwechslung zum norwegischen Nordkap. Nie scheute er sich, die soziale Welt auch von „ganz unten“ zu suchen und zu erleben. 

1956 wanderte er mit wenigen Dollars in der Tasche nach Amerika, nach New York aus, wo er sehr rasch mit seinen Ideen und seinem zeichnerischen Talent punkten konnte. Bald druckten große amerikanische Zeitungen seine Karikaturen, schon nach einem Jahr beeindruckte er die einschlägigen Gazetten mit seinem illustrierten Kinderbuch „The Melops go flying“, in dem eine Schweinchenfamilie auf archäologische Erkundung geht. Ein Bestseller! Tomi Ungerer war in aller Munde. Er traute sich weiter, schrieb und malte Kinderbücher, die die Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenbuch sprengten, die Themen des amerikanischen Alltages mit zartem Strich und humanistischer Botschaft aufgriffen. 1961 erschien Ungerers vielleicht bekanntestes Kinderbuch „Die drei Räuber“. 

Tomi Ungerer: Ohne Titel, Zeichnung für Die Drei Räuber, 1961
Tusche, farbige Tuschelavierung, Gouache-Highlights und Collage, 30 x 23,5 cm
Sammlung Musée Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration
© Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertola
Copyright: Info: 2753px x 3585px / 0.72 MB / JPEG

Immer drastischer und ironischer widmete er seine sehr deftigen, skurrilen Satiren der oberflächlichen, „gehobenen“ Gesellschaft, ihrem menschenverachtenden Sex und verlogenen Eros. Er wollte provozieren, anprangern, das Nachdenken zünden, als Pazifist den Krieg anklagen als er Plakate gegen den Vietnamkrieg schuf. Er machte sich unbeliebt, das FBI beobachtete ihn, seine Kinderbücher wurden geächtet, seine frivolen Zeichnungen als frauenfeindlich kritisiert. 

Tomi Ungerer: Give, Plakat gegen den Vietnamkrieg, 1967
Offset-Druck, 68 × 53 cm
Sammlung Musée Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertola
Copyright: Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate
Info: 2628px x 3287px / 6.38 MB / JPEG

Es war 1971 – er und seine Frau zogen nach Neuschottland. Neben der Viehzucht und Farmarbeit zeichnete und veröffentlichte er weiter. Im Januar 1975 erschien „Das große Liederbuch“ mit 204 Volks- und Kinderliedern und 156 bunten Illustrationen von ihm. Zwei Seelen beherrschten ihn zu allen Zeiten, die des illustrierenden Kinderbuch-Autors und die des bissigen, „unmoralischen“ Mahners. Sagte er „Die Kinderbücher waren für mich immer so eine Art von Nebengeschäft, für meinen Spaß“, überschritt er als selbsternannter Anarchist und Zyniker bewusst und mit viel Spaß die Grenzen von Sitte und Moral, um die als „moralisch“ bemäntelte „Unmoral“ zu geisseln. Bis zu seinem Tode 2019 blieb er dieser seiner Maxime treu. 

Tomi Ungerer: With no eyes to cry with, Zeichnung für Slow Agony, 1971-1983
Schwarzer Fettstift, lavierte farbige Tuschen und Tusche, 60,7 × 89,8 cm
Sammlung Musée Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertola
Copyright: Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate
Info: 5700px x 3940px / 2.28 MB / JPEG

Er lebte mit seiner Familie in dieser Zeit abwechselnd in Straßburg und nahe der Stadt Cork im Süden Irlands. Auch hier widmete er sich neben der Arbeit als Bilderbuchillustrator und seiner politischen und erotischen Satire der Schaf- und Rinderzucht. Bezeichnend ist eine Sammlung gegenwartsbezogener, gesellschaftskritischer Zeichnungen, von 1977 bis 1979 entstanden, die in dem Buch „Babylon“ erschienen sind. Drastisch, skurril belegen Bilder wie „Face Lift“, „Industrialist“, „Sex education“ oder „Promotor“ Verwerfungen in unserer Zeit. Seine Karikaturen zum widersinnigen Verhältnis vom Mensch zum Tier klagen diesbezügliche Feinschmeckerorgien an. 

Tomi Ungerer: Untitled, 2013
Copyright: Tomi Ungerer Estate/Diogenes Verlag AG, Zürich
Info: 3521px x 4498px / 10.15 MB / JPEG

Tomi Ungerers Heimat ist das französische Elsass. In der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte er die gegenseitigen Sprachverbote der deutschen und französischen Regierung in Straßburg. Ein Verlust kultureller und gesellschaftlicher Zugehörigkeit war die natürliche Folge. Ein Vaterland habe er nie gehabt. „Das Wort ist mir total unheimlich. (…) Für ein Vaterland muss man schon ein Patriot sein. Aber ich kann nicht Patriot sein für die Franzosen und die Deutschen. Allein für Europa, das schon.“

In Neuschottland schreibt Tomi Ungerer:

„Bin hinunter zum Stall gegangen, um einen Hahn zu köpfen. Ohne seinen abgeschlagenen Kopf läuft er immer noch weiter, ein anderer Hahn, ein lebender, greift ihn an; ein paar Sekunden später fällt der tote tot zu Boden. Der triumphierende Hahn ist über seinen Sieg begeistert und kräht, bis er einem Schlaganfall nahe ist, um seinen Ruhm zu verkünden. Wie französisch. “
„Heute hier morgen fort“, Diogenes 1988, S.106)

Tomi Ungerer hat insgesamt mehr als 140 Bücher veröffentlicht und illustriert, etwa 40 000 Zeichnungen, über 300 Plakate, Dutzende Ölbilder, Lithografien, Fotografien, Collagen, Assemblagen (vor allem in seinen letzten Jahren) und Skulpturen geschaffen. Er litt nahezu unter seinen immensen Ideen und Einfällen, die ihn zu immer neuem Tun trieben. Er selbst sagte von sich, er habe fünf Leben gelebt. Arbeiten, das zeichnerische Einfangen von zwischenmenschlichen Momentaufnahmen machten ihn glücklich.

Er gehört zu den ganz Großen. Er war ein Multitalent, ein politisch engagierter Mensch, Pazifist und Provokateur, ein umtriebiger Weltbürger. Seine Arbeiten als Illustrator, Schriftsteller, Werbezeichner und Karikaturist haben ihn weltberühmt gemacht.
2007 eröffnete die Stadt Straßburg ihrem berühmten Sohn ein eigenes Museum.

Tomi Ungerer: Ohne Titel, Zeichnung für Otto, 1999
Schwarzer Bleistift und lavierte Farbtinte, 29,7 × 21 cm
Sammlung Musée Tomi Ungerer – Centre international de l’Illustration
Foto: Musées de la Ville de Strasbourg/Mathieu Bertola
Copyright: Diogenes Verlag AG, Zürich/Tomi Ungerer Estate
Info: 2759px x 3030px / 0.9 MB / JPEG

Anläßlich der Wiederkehr seines 90. Geburtstages zeigen die Deichtorhallen Hamburg in der Sammlung Falckenberg in Zusammenarbeit mit dem Tomi Ungerer Estate und dem Musee Toni Ungerer in Straßburg in der großen Ausstellung TOMI UNGERER – IT’S ALL ABOUT FREEDOM einen umfassenden Querschnitt durch neun Jahrzehnte seines künstlerischen Schaffens – von Zeichnungen aus den 1930er-Jahren bis hin zu Objekten aus den 2010er-Jahren.

Von 1981 bis 1987 arbeitete Robert Walter, er leitete das Deutsch-Französische Kulturzentrum in Karlsruhe, beim Institut Français in Hamburg. Dort lernte er jenen Mann kennen, mit dem er lange Zeit zusammenarbeiten sollte: den Elsässer Künstler Tomi Ungerer. »Das waren richtig wilde Zeiten, da haben wir wirklich viel gemacht«, erinnert sich Walter. So organisierten sie mit anderen 1987 in der Hansestadt die »Elsässische Woche« unter dem Motto: »Achtung, die Elsässer kommen!«. »Es kamen viele Promis aus dem Elsass: die Kabarettgruppe Barabli, Germain Muller, Pierre Pflimlin – alle waren sie da.« Tomi Ungerer hatte für Hamburg die ganze Stadtanimationen gemacht, wo Elsässer Figuren aus dem Korb einer bunten Montgolfière vom Himmel fallen: Unter ihnen eine in Strassburger Tracht, die der Luftzug hochhebt und darunter ein Frauen-Arsch ohne Höschen sichtbar wird, so dass ganz Hamburg sich daran ergötzte, sogar auch diejenigen, die daraus einen Skandal machten ….                (https://webjournal.ch/archive/webjournal.ch/article.php%3Farticle_id=753.html)

Wir wünschen der Ausstellung viel Erfolg!

TOMI UNGERER
IT’S ALL ABOUT FREEDOM
27. NOVEMBER 2021 – 24. APRIL 2022
SAMMLUNG FALCKENBERG/DEICHTORHALLEN HAMBURG 

Sammlung Falckenberg
Wilstorfer Straße 71, Tor 2
21073 Hamburg-Harburg
Tel. +49 (0)40 32506762
Fax +49 (0)40 30394757

sammlungfalckenberg@deichtorhallen.de

Öffnungszeiten
Samstags und sonntags 12 – 17 Uhr
Öffentliche Führungen donnerstags 18 Uhr, freitags 16 und 18 Uhr

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog:
Klappenbroschur, 264 Seiten, mit 200 farbigen Abbildungen. In deutsch und englisch. Hatje Cantz Verlag, Berlin. Preis: 35 Euro während der Ausstellungslaufzeit, danach 44 Euro.