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„Maschine im Stillstand“ von Cristina Lucas, Kunstsammlungen Chemnitz

Porträt der Künstlerin Cristina Lucas, 2021
Vor ihrer Arbeit: Unending Lightning / Unendlicher Blitzschlag, 2015 – 2021
Drei-Kanal-Videoinstallation
HD, 3:4, 16:9, 3:4, Farbe, ohne Ton, ca. 6 Stunden
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas
Foto: Kunstsammlungen Chemnitz/ Kristin Schmidt Vor ihrer Arbeit: Unending Lightning / Unendlicher Blitzschlag, 2015 – 2021

Das Konzept für diese Ausstellung war schon vor der Corona-Pandemie fertig. Die Präsentation ist keine Reaktion auf diese nun schon 11/2 Jahre währende Zeit. Und doch gibt diese Pandemie den Aussagen ein ganz besonderes Gewicht. Das Verharren und Innehalten im tiefen Lockdown hat uns allen Zeit gegeben, über uns nachzudenken, das Gewesene kritisch zu hinterfragen. 

Die spanische Künstlerin Cristina Lucas konfrontiert uns in ihrer ersten deutschen Einzelausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz damit in einer ganz besonderen, inhaltsreichen Weise. Es ist eine sehr politische, eine sehr differenzierte Ausstellung – eine besorgniserregende Bilanz über unsere Zeit. Akribisch analysiert sie welthistorische Ereignisse, gesellschaftlich Konstrukte mit ihren ideologischen Wurzeln und beleuchtet die Auswirkungen moderner Technologien auf Mensch und Umwelt. Ihre Arbeiten münden in der Frage, mit welchen Mitteln, und Vorstellungen die Zukunft menschlicher, friedlicher und umweltfreundlicher gestaltet werden könnte. Dabei bedient sie sich sehr differenzierter künstlerischer Mittel, sie malt, fotografiert, entwickelt Videos, baut Aktionen und Installationen. 

Am beeindruckendsten ist für mich die Video-Installation „Unending Lightning“ (Unendlicher Blitzschlag). Durch die immense vorausgehende Fleißarbeit einer  Forschungsgruppe aus mehreren Ländern visualisierte Cristina Lucas alle Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung seit dem ersten Fliegerangriff im Türkisch-italienischen Krieg von 1912 in diesem Video . Auf einer 3-teiligen Wand schlagen die Bomben als prominente schwarze Punkte wie Blitze im Sekundentakt auf ihre geografischen Ziele ein. Geschundene Städte und Landstriche brauchen nicht lange und sind schwarz verfärbt. Denken wir an die Ziele in Europa im ersten und zweiten Weltkrieg, an die Bombardierung von Guernica, Japans, an den Vietnamkrieg, an Bosnien oder Syrien. Exakt wird jeder Schlag mit Datum, den zivilen Opfern (soweit noch ermittelbar) und aufrüttelnden Bildern der Flugvorbereitung, der Zerstörung, des Leids dargestellt. Dieses Werk nimmt mehr als 6 Stunden Zeit in Anspruch, ein Ende möglicher Bombardements ist wohl leider nicht abzusehen. 

Cristina Lucas
Unending Lightning / Unendlicher Blitzschlag, 2015 – 2021
Videostill, Drei-Kanal-Videoinstallation
HD, 3:4, 16:9, 3:4, Farbe, ohne Ton, ca. 6 Stunden
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Cristina Lucas
Unending Lightning / Unendlicher Blitzschlag, 2015 – 2021
Videostill, Drei-Kanal-Videoinstallation
HD, 3:4, 16:9, 3:4, Farbe, ohne Ton, ca. 6 Stunden
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Über die künstlerische Gestaltung der Videoinstallation hinausgehend zeigen ergänzende Weltkarten die Bombeneinschläge plastisch durch maschinenbestickten Stoff, es sind sogenannte Tuften.  

Cristina Lucas
Europe 1945 / Europa 1945, 2017 – 2021
Maschinenbestickter Stoff, Monotypie
128 x 95 cm
Aus der Serie Tufting / Tuften 2017 – 2021
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Im Gegensatz zu dieser menschenverachtenden Anwendung des Fliegens zeigt Cristina Lucas in der Sequenz „Piper Prometeus“ wie durch Verwendung der von Bernoulli und Newton abgeleiteten Auftriebskraftgleichung L – (1/2)dV2sCL der Traum vom Fliegen möglich wurde. 

Wie so oft ein missbrauchter Traum!
Ich musste an die segensreiche Implementierung des Internets denken und wie oft wird auch diese brillante technische Erfindung in eine falsche Richtung instrumentalisiert. 

Cristina Lucas
Piper Prometeus / Piper Prometeus, 2013
Videostill, Video, HD, 16:9, Farbe, Ton, 4 Min.
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Im nächsten Thema widmet sich die Künstlerin dem ökonomischen Strukturwandel. Die produzierende Industrie, die vielen Menschen Lohn und Brot gab, wird in zunehmenden Maße durch eine finanzorientierte und vor allem auf Informationen basierende Wertschöpfung abgelöst. Eine Vielzahl von Arbeitsplätzen erübrigen sich, soziale Verwerfungen resultieren. Christina Lucas` künstlerische Umsetzung ist interessant, filmisch hervorragend umgesetzt, aber muss die Frage erlauben, ob man nicht eher die fehlende soziale Abfederung anprangern sollte als die allgemein notwendige Weiterentwicklung.  Ehemalige Beschäftigte schmeißen lustvoll Arm in Arm mit ihren Ehefrauen oder -männern die Scheiben ihrer abgewrackten alten Fabrikhalle ein: „Europleasure International Ltd.: Touch and Go“, ein makabrer Spaß! Mir fehlen Beispiele und Möglichkeiten, wie wir mit dieser nicht aufzuhaltenden Entwicklung alternativ umgehen können und vor allem sollten.

Cristina Lucas
Europleasure International Ltd.: Touch and Go / Europleasure International Ltd.: Anfassen und loslegen, 2010
Videostill, Video, HD, 16:9, Farbe, Ton, 13:49 Min.
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

In der Fotoserie „Berge“ aus dem Jahr 2012 zeigt die Künstlerin gewaltige Berge, Berge in der Natur und Berge nach Eingriffen durch Menschenhand. Die Natur, gegliedert in Berge, Täler, Wälder und Gewässer wird immer weniger als das, was sie sein sollte, wahrgenommen, als Ort der Erholung und Regeneration, sondern der erste Blick richtet sich auf ihre energetische Resource. Die Abholzung gewaltiger südamerikanischer Wälder, die hektische Suche nach seltenen Erden oder zubetonierte Landschaften sind kurzsichtige Massnahmen, für die die Natur in späteren Jahren ihren Preis verlangen wird.

Hochaktuell sind die Veränderungen an unseren Polkappen, wo die Klimaveränderungen deutlich sichtbar sind. Cristina Lucas schuf dazu am Nordpol beeindruckende Installationen, die das Abbrechen und Schmelzen riesiger Eisberge belegen, zeigt aber auch die Spannungen, die sich um die Verteilung dortiger Ressourcen entwickeln werden. Die Arbeit übernimmt das Zitat von Paul Klee, in dem er schon vor 100 Jahren mit „Der Mensch, der fehlt“ die Situation fehlender Vernunft beschrieb.

Cristina Lucas
Mountain of Clay / Lehmberg, 2012
Farbfotografie, 150 x 180 cm
Aus der Serie Mountains / Berge
Farbfotografien, je 150 x 180 cm
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Weitere Arbeiten der spanischen Künstlerin demonstrieren die Verwerfungen, die den einseitigen gewinnorientierten Blick auf unsere Welt verdeutlichen. Sie ordnet das Periodensystem der chemischen Elemente nach der Bewertung, die jedes Element auf den Finanzmärkten der Welt erzielt. („Elementare Order“) Man staunt, nicht das Gold steht an erster Stelle, sondern das Rubidium. Sie legt firmeneigene Farbsignale übereinander, die sich unter- und übereinander verwischen und letztlich auf das Gewirr der täglichen Konkurrenzen verweisen („Monochromes“).

Etwas abweichend von diesen gesellschaftlichen Problemen hat die Künstlerin 2020 begonnen, ausgehend von den Elementen, die unseren menschlichen Corpus am Leben erhalten, abstrakte „Kompositionen“ zu entwerfen, in denen sie diese 25 essentiellen Elemente als Malmaterial aus Gesteinsproben verwendet. Eine tolle Idee, die Verbindung zu unserem Planeten, der uns atmen läßt, der uns ernährt und Herberge gibt, bewußt zu machen.

Cristina Lucas
Composition Earth is Different Than Territory (Deleuze & Guattari), Grey Background, 2020, 61 x 50 cm / Komposition. Erde ist anders als Territorium (Deleuze & Guattari), Grauer Hintergrund 61 x 50 cm, 2020 – 2021
Aus der Serie Compositions / Kompositionen, 2020 – 2021
Installation mit chemischen Elementen, Pigmenten und Steinen, verschiedene Maße
Pigmente aus Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kalzium, Phosphor, Kalium, Schwefel, Natrium, Chlor, Magnesium, Eisen, Fluor, Zink, Silizium, Kupfer, Jod, Chrom, Selen, Nickel, Bor, Mangan, Lithium, Molybdän, Kobalt und Kollagen
Courtesy: Cristina Lucas, Galeria Albarrán Bourdais, Madrid
© Cristina Lucas

Für mich etwas überraschend erscheint mir Cristina Lucas’ Arbeit „Mehrwert“. Sie beschäftigt sich mit den Manuskripten und der Editionsgeschichte des mehrteiligen Werkes „Das Kapital“ von Karl Marx. Grundlage ist ein Dokumentarfilm, der den Weg der Schriftstücke bis in das Archiv des Amsterdamer Institutes für Sozialgeschichte darstellt. Die Arbeit zeigt aber auch, wie erstklassige Abzüge dieser Dokumente auf dem Markt atemberaubend hoch gehandelt werden. Hier wundere ich mich, diese Tatsache als eine „ironische Mutation der wichtigsten zeitgenössischen Kapitalismuskritik“ zu bezeichnen. Nein, das ist Kapitalismus! Gewinnbringendes wird hofiert, gleich ob es seltene Manuskripte von wem auch immer sind, ob es seltene Erden oder Bodenschätze vom Nordpol sind. Schade. Diese Arbeit hat mich nicht überzeugt.

Aber gerade deshalb ist der Besuch dieser hochaktuellen Ausstellung so wichtig. Sie wirft Fragen und Diskussionsthemen auf, die uns alle berühren. 

Cristina Lucas lebt in Madrid. Geboren 1973, studierte sie Bildende Kunst bis 1998 an der Universidad Complutense, Madrid, von 1999 – 2000 an der University of California, Irvine und von 2006 – 2007 an der Rijksakademie van Beeldende Gunsten, Amsterdam. Sie ist durch eine Vielzahl von Einzelausstellungen und Beteiligung an Gruppenausstellungen seit 2004 eine international sehr bekannte und beachtete spanische Künstlerin. „Maschine im Stillstand“ von Cristina Lucas – ein Meilenstein in der Ausstellungsgeschichte der Chemnitzer Kunstsammlungen.

Maschine im Stillstand
Cristina Lucas
Kunstsammlungen Chemnitz
Am Theaterplatz

Theaterplatz 1, 09111 Chemnitz
T.: 49 (0)371 488 4424
kunstsammlungen-chemnitz.de

Öffnungszeiten
Di, Do-So, Feiertag 11-18 Uhr
Mi 14-21 Uhr
Sonderprogramme und Führungen s.o.