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„Magyar Modern“. Berlin. Rezension des Ausstellungskataloges von Dr. Michael Neubauer

Lajos Tihanyi
Großes Interieur mit Selbstbildnis – Mann am Fenster, 1922
Öl auf Leinwand, 140,5 x 105 cm
Museum der Bildenden Künste, Budapest – Ungarische Nationalgalerie

Die Idee ist nicht neu. Schon 1983 versuchte der spätere Direktor der Hamburger Kunsthalle  Hubertus Gaßner (*1950) den Direktor der Berlinischen Galerie Eberhard Roters (1929 – 1994) für ein Ausstellungsprojekt „Wechselwirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik“ zu gewinnen. Die Begeisterung dafür war groß. Umfangreiche Vorarbeiten erfolgten, die nur krankheitsbedingt letztlich nicht zum Ziel führten. Jetzt heißt es in der Berlinischen Galerie „Magyar Modern. Ungarische Kunst in Berlin 1910 – 1933“ und beruft sich in vielem auf diesen vorhandenen wissenschaftlichen Fundus. Die Ausstellung wird von einem gleichnamigen Katalog des HIRMER-Verlages München begleitet. 

Höchste Zeit, dieses Projekt nunmehr nach 40 Jahren zu gestalten, warten auf den Besucher und Leser grandiose Beispiele expressionistischer und konstruktivistischer Kunst als Beitrag zur Klassischen Moderne. Meist unbekannt lagen sie im Verborgenen. Die umfangreichen Katalogbeiträge geben einen umfassenden Einblick in das Wirken ungarischer Künstler, aber auch in das Berlin der 1920iger Jahre. Sie beleuchten auf eine wirkungsvolle Weise das ungarisch-deutsche Verhältnis in jener Zeit und wenn man will, befruchtet „Magyar Modern“ das leicht angekratzte Miteinander unserer Nationen auch heute. 

1919/1920 – die österreichisch-ungarische k.u. k. Monarchie war nach dem Krieg am Ende. Hohe Gebietsverluste nach dem Friedensvertrag von Trianon revolutionierte viele Ungarn. Die kommunistische Räterepublik hielt aber nur 133 Tage. General Miklos Horthy errichtete ein straff konservatives Regime, dass einen unglaublichen Terror gegen Kommunisten, politisch Linke und Juden zuließ. Viele von ihnen waren Künstler, die sich bereits in der Räterepublik engagiert hatten, Ihnen blieb nur die Flucht. Oft war Wien die erste Station, aber attraktiver war das moderne, freie, bunte und als kulturell bedeutsam bekannte Berlin der 1920iger Jahre.  

Laszlo Moholy-Nagy (1895 – 1946), berühmt als ein späterer Bauhaus-Meister in Weimar und Dessau, kam 1920 nach Berlin. Er stellte zunächst in der Galerie Gurlitt aus. Seine Arbeiten gefielen. Es dauerte nicht lange und der Besitzer der Galerie „Sturm“ Herwarth Walden (1878 – 1941) übernahm seine Vertretung durch Ausstellungen in seiner Galerie. Herwarth Walden war neben der Galerie Ferdinand Möller (1882 – 1956) der wesentliche Dreh und Angelpunkt für den Kontakt zu ungarischen Künstlerin. Er stellte ihre Werke aus, verbreitete sie und  beschrieb ihr Können in der Zeitschrift „Sturm“. 

Nahezu unbekannt der  Schriftsteller und Maler Lajos Kassak (1887 – 1967), ein glühender Sozialist, der mit seiner Zeitschrift „Ma“ (Heute) ein enges Netzwerk mit Waldens „Sturm“ aufbaute. Von Budapest vetrieben, etablierte er sein Journal in Wien und steuerte künstlerisch von hier aus, oft auch aus Berlin, nicht nur viele seiner meist jüdischen Künstlerkollegen, sondern kümmerte sich auch um Theorie und Sinn ihrer politischen Gedanken. Dabei vertrat er eine freie Meinungsbildung, die jedem seinen Weg offen ließ. Ganz anders sein 8 Jahre jüngerer Kollege Alfred Kemeny (1895 – 1945)! Fest an der Seite sowjetischer Ideologien forderte er kompromisslos die Errichtung eines kommunistischen Staates. So inhomogen die ungarische Kommune war, schuf sie in diesen Jahren ein monumentales künstlerisches Werk. Wir finden impressionistische Ansichten, expressionistische Tendenzen und von modernen russischen Ideen beeinflusst und angeregt zunehmend konstruktivistische Werke. Sie beschäftigten sich mit Fotografie, typografischen Aufgaben, Architektur, kreierten Bühnenbilder für Berliner Theater. Schon denkt man an den genialen ungarischen Theaterarchitekten Oskar Kaufmann (1873 – 1956). Ihm verdankt Berlin das Hebbeltheater, die Kroll-Oper, die Volksbühne am Rosa Luxemburgplatz, die Komödie mit dem Theater am Kurfürstendamm und das Renaissancetheater in seinem typisch barocken Jugendstil. Ungarische Architekten waren es, die sich am sozialen würdevollen Wohnungsbau in der Reichsforschungssiedlung Haselhorst und der Spandauer Großsiedlung Siermensstadt unter Fred Forbat (1897 – 1972) beteiligten. 

Der Katalog schenkt all diesen Aktivitäten größte Aufmerksamkeit, beleuchtet die Geschehnisse aus den verschiedensten Blickwinkeln, so dass inhaltliche Überschneidungen nicht ausbleiben. Das ist weniger störend, als das übereifrige Gendern, das bei den ohnehin oft verschachtelten, langen Sätzen („Vom Bild zum Beton“ z.B.) das verstehende Lesen erschwert. Schade, wo doch gleich im ersten Kapitel des Kataloges der ungarische Schriftstelle Sandor Marai (1900 – 19899 so zitiert wird:

„Die deutsche Sprache, die reif, logisch, präzise und unmissverständlich sei, …“
Katalog zu "Magyar Modern", HIRMER 2022, S.10

All diese Kleinigkeiten mindern den großen Wert dieses Kataloges in keiner Weise. Man lernt den Impressionisten Karoly Ferenczy, den volkstümlichen Bela Kadar, den expressionistisch orientierten Janos Mattis Deutsch, den Konstruktivsten Peter Laszlo Peri, die Fotografinnen Etel Mittag-Fodor und Eva Bersnyö kennen. Wir sehen die kämpferisch politischen Plakate, die zur Zeit der Räterepublik die Budapester Straßen tapezierten und vieles, vieles mehr.  

Gab es  Kontakte zwischen ungarischen Künstlern und Vertretern der Neuen Sachlichkeit in Deutschland? Diese Frage beantwortet der Katalog nicht. 

1933 war Schluß. Alle mussten sich neu orientieren, Flucht war das magische Wort, dessen Inhalt wir nur schwer ermessen können. 

In einem sehr interessanten Beitrag beleuchtet Tibor Frank die Facetten der kulturellen Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland, wie Wissenstransfer und Einfluß der deutschen Sprache und Kultur. Ungarn ist uns näher, als wir es im Moment empfinden. Ungarische Menschen sind Europäer durch und durch. In einem Film des Bayrischen Rundfunks sagt der Direktor der Andrassy Universität Budapest, Professor Zoltan Tibor Pallinger:

„…Wir haben hier eine sehr starke Wertorientierung hinsichtlich der europäischen Werte und es ist das Schöne, dass wir sie hier in Ungarn auch vertreten können.“
Europa-Reportage | 16.10.2022, Und plötzlich war es Heimat, BR Fernsehen, 16.10.2022, 16:15 Uhr


Viktor Orban ist nicht Ungarn.

Der Katalog zu „Magyar Modern“ des HIRMER-Verlages München belebt die Texte nicht nur mit der brillanten Wiedergabe vieler Werke der ungarischen Künstler, sondern unterstreicht das Gesagte mit zahlreichen aktuellen Bildzeugnissen. Er ist eine lesenswerte Ergänzung  zur künstlerisch wie politisch sehr interessanten Zeit der Berliner zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Katalog zur Ausstellung „Magyar Modern“ in der Berlinischen Galerie  (bis 6.2.2023)
HIRMER – Verlag München
Hrsg.: Ralf Burmeister, Thomas Köhler –
Autorenkolektiv
272 Seiten
im Handel 49,90 €