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Impressionismus in Russland. Aufbruch zur Avantgarde.

Natalija Gontscharowa  Eberesche. „Panino“, bei Wjasma, 1907/08, Öl auf Leinwand, 99,4 x 69 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 

Am 15. Oktober 1922 wurde in Berlin, Unter den Linden 21, in den Räumen der Galerie van Diemen (heute Ecke zur Friedrichstraße/Nachrichtenagentur AFP) die „Erste Russische Kunstausstellung“ eröffnet, die dem deutschen Publikum zeigte, was sich auf künstlerischem Gebiet in den Jahren vor der Revolution in Russland abgespielt hatte. Schon 2 Jahre vorher war in Potsdam von Konstantin Umanskij  das Buch „Neue Kunst in Russland, 1914-1919“ erschienen, das mit den Worten schließt:

„Der Leser soll selbst die Konsequenzen aus diesem Berichte ziehen und sich darüber klar werden, ob ihn Sympathien für die neue Kunst Russlands für ihre schöpferischen Errungenschaften und die von ihren Führern durchgeführte Kunstreformation bestimmen, den geistigen und ökonomischen Kontakt mit Rußland - sobald es möglich ist - wieder herzustellen. “
Umanskji, Konstantin, "Neue Kunst in Russland", 1914-1919, Inktank publishing, 2018, S.63

Diese Möglichkeit bietet uns in vortrefflicher Weise das Museum Barberini Potsdam ab 28. August 2021 mit der Ausstellung „Impressionismus in Russland. Aufbruch zur Avantgarde“ aufs Neue. Lag der Ausstellungsschwerpunkt 1922 in konstruktivistischen, futuristischen und suprematistischen Werken so beleuchtet die aktuelle Ausstellung in Potsdam den impressionistischen Teil russischer Werke um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Oft waren es die gleichen Künstler, die sich zunächst der impressionistischen Malweise widmeten ehe sie in Richtung Klassische Moderne aufbrachen.
80 Werke aus der Zeit zwischen 1860 und 1925 belegen diesen Weg russischer Künstler  – von Ilja Repin bis Kasimir Malewitsch.

Ilja Repin Auf dem Feldrain. Vera A. Repina geht mit ihren Kindern über den Feldrain, 1879
Öl auf Leinwand, 61,5 x 48 cm
Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

Repin war 1873-1876 in Italien und Frankreich, neben anderen studierte er auch die französischen Impressionisten, zurückgekehrt sah er seine Familie 1879 so!

Neben der in Russland zu allen Zeiten bestehenden Ikonentradition widerspiegelten sich seit Zar Peter I. auch im russischen Reich Entwicklungen der bildenden Kunst auf dem europäischen Kontinent. In weiten Teilen des 19. Jahrhunderts dominierte der akademische Realismus mit seinen unverrückbaren Grenzen. Noch 1873 schrieb Fjodor M. Dostojewski:

„Dem Druck der Öffentlichkeit zuliebe verleugnet der junge Künstler das natürliche Bedürfnis, sein Herz in eigenen Bildern auszuschütten; er fürchtet, sich die Beschuldigung der müßigen Neugier zuzuziehen, er unterdrückt, vernichtet die Bilder, die sich ihm aus der Seele drängen und preßt unter schmerzlichen Krämpfen ein Thema aus sich heraus, das die allgemeine liberale und öffentliche Meinung befriedigt…. “
Zur Bewertung der realistischen Malerei Rußlands in der sowjetischen Kunstwissenschaft Dietrich Geyer Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Neue Folge, Bd. 2, H. 4 (1954), pp. 422-431 (10 pages) Published By: Franz Steiner Verlag

Eine Folge war die Absetzbewegung realistisch malender Künstler, unter ihnen Ilja Repin, als „Peredwischniki“ („Wanderer“) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit freundlichen, farbigen, helleren Porträts-, Landschafts- und Genrebildern revoltierten sie gegen die erstarrte traditionelle Akademiemalerei. 

Abram Archipow
Besuch, 1914
Öl auf Leinwand, 97,7 x 150 cm 
Staatliche Tretjakow-Galerie, 
Copyright Moskau

Und es gab Paris, seit 1860 die unangefochtene Kunstmetropole der Welt! Von hier kamen ganz neue Töne. Im Dezember 1873 hatten sich junge französische Maler zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen (Société Anonyme des Artistes Peintres, Sculpteurs, Graveurs etc.), um eigene Ausstellungen zu organisieren. Bisher waren ihre Bilder von offiziellen Salons immer wieder abgelehnt worden. Ihre Malweise, das zu malen, was sie sahen, was ihnen begegnete, im Freien, mit viel Licht und in jedem Augenblick neu und anders, war bisher nicht etabliert. Die Impressionisten waren geboren und mit Ihnen viele Bewunderer ihrer Kunst. Zu ihnen gehörte der russische Textilmagnat Sergei Iwanowitsch Schtschukin in Moskau. Eine Reihe junger russischer Maler begeisterten sich an seinen, diesen neuen Bildern. 

Der Maler David Burljuk (1882 – 1967), der wie sein jüngerer Bruder Wladimir
(1886 – 1917) in der ersten Ausstellung des Blauen Reiters 1911 in München mit einem Werk präsent war, erinnerte sich: 

„In Moskau sahen wir uns häufig die beiden Franzosensammlungen von S. I. Schtschukin und I. A. Morosow an – ohne das hätte ich es nicht gewagt, die Arbeit anzufangen [...] alles Alte ist auf den Müll gewandert, und ach, es ist schwer und beschwingend, alles von vorn zu beginnen. “
Laudius, Kunstgeschichte, Kurs 25, S.3

Michail LarionowFlieder, 1904/05
Öl auf Leinwand, 49 x 47 cm Staatliche 
Tretjakow-Galerie, Moskau 
© VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Wie erinnert dieser Flieder an Monet’s „Flieder in der Sonne“

Viele pilgerten zu Studienzwecken nach Paris, mancher blieb für immer dort: W. D. Baranow-Rossine, David und Wladimir Burljuk, Robert R. Falk, Georgi B. Jakulow, Konstantin A. Korowin, Alexander W. Kuprin, Natalja S. Gontscharowa und Michail F. Larinow, Isaak I. Levitan, Wassili D. Polenow, Ilja J. Repin, Valentin A. Sero, Nicolas Tarkhoff und Sergei A. Winogradow. 

Die französische „Lichtmalerei“ war in Russland angekommen!  

Neben Themen französischer Maler förderten typische russische Motive wie Sommerhäuser, Landschaften oder Stillleben, mit viel Licht und leuchtenden Farben auf die Leinwand gebracht, eine eigene Spielart des Impressionismus. 

Valentin SerowLjolja Derwis, 1892
Öl auf Leinwand, 67,5 x 45,5 cm 
Staatliche Tretjakow-Galerie, Copyright Moskau

Schüler von Repin. Der gefürchtete Porträtist!
 Professor an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur
Lehrer von R. Falk und M. Larionow

Robert FalkLisa in der Sonne, 1907
Öl auf Leinwand, 94,5 x 81,7 cm
Staatliches Museum der Bildenden Künste der Republik 
Tatarstan, Kasan
© VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Hier malt Robert Falk seine spätere Frau als
Impressionist. Das hatte er bei seinem Lehrer Valentin Serow gelernt. Später erprobt Falk Elemente des Fauvismus,Kubismus und Neoprimitivismus

Konstantin Korowin„Auf der Terrasse beim Tee“, 1916
Öl auf Leinwand, 67 x 87 cm
Copyright ABA Gallery, New York

Altersunterschiede, künstlerische Entwicklung, Fragen der nationalen Identität oder das Verhältnis zur realistischen Tradition verschoben natürlich die Intensität, sich der impressionistischen Malweise zu widmen. 

Nicolas TarkhoffKarnevalstag in Paris, 1900
Öl auf Leinwand, 100 x 65 cm Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

Wie erinnert dieser Karnevalstag an Stadtbilder von Camille Pissaro oder Gustave Caillebotte

Es war eine Periode des revolutionären Ausfechtens zwischen den sich neu ausbildenden Gruppen und den etablierten Akademikern. Sie schlossen sich wahlweise zusammen, z.B. in die Künstlergruppe „Karo-Bube“, lösten sich wieder und gründeten eine neue, wie „Eselschwanz“, oft, um eigene Ausstellungen organisieren zu können.  Für viele war wichtig, die russischen Wurzeln nicht zu verlieren (z.B. Natalja Gontscharowa) und sie übernahmen Szenen der russischen Volkskunst in ihre Bilder auf. 

Natalija Gontscharowa
Eberesche. „Panino“, bei Wjasma, 1907/08 Öl 
auf Leinwand, 99,4 x 69 cm
Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
© VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Die Suche nach immer wieder neuen Formen des Ausdrückbaren führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige der russischen Impressionisten zu pointillistischen Arbeiten (Nikolai W. Meschtscherin, Igor E. Grabar).

Nikolai Meschtscherin
Mondnacht, 1905
Tempera auf Leinwand, 55 x 80,6 cm
Copyright Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

Die Begegnung mit anderen avantgardistischen Stilrichtungen wie Kubismus und Futurismus führte Michail Larionow zu seinem Manifest des Rayonismus, das das Licht in seiner vierten Dimension (strahlenartige Farbfelder als Lichtbündel) als den zentralen Kernpunkt der Malerei propagierte. Partnerin war ihm hierbei, wie im Leben, Natalia Gontscharowa.

Natalija GontscharowaDer Wald, 1913
Öl auf Leinwand, 130 x 97 cm
Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, 
Madrid © VG Bild-Kunst, Bonn 202

Die Strahlenmalerei, so Larinow, 
vermittle ein Gefühl des Zeitlosen 
und Räumlichen, ja der vierten Dimension. 
(aus 
Kunstsammlungen Chemnitz
„Revolutionär“ Katalog zur
Ausstellung 2017, S. 24)

Noch mutiger veränderte Kasimir Malewitsch das Gesehene in nicht gegenständliche kubistische, kubofuturistische und suprematistische Formen, um mit seiner Kunst die technologischen und wissenschaftlichem Fortschritte in jener Zeit aufzuzeigen. Mit dem „Schwarzen Quadrat auf weißem Grund“ führte er die Malerei auf den Nullpunkt zurück. Eine gewollte Provokation, ein neuer Anfang, eine Sensation 1910 auf der Petrograder Ausstellung „0.10“! Ähnliches gelang ihm mit seiner Serie „Weiß auf Weiß“ (1917-1918), von der wir ein Original in Potsdam sehen können. „Weiß auf Weiß“als lichthaltiges Nichts? Darüber kann man sich auch heute noch Gedanken machen, nicht nur in der Kunst. 

Kasimir MalewitschKonstruktion in Auflösung 
(Drei Bögen auf diagonalem Element in Weiß), 1917
Öl auf Leinwand, 98 x 70,5 cm
Stedelijk Museum Amsterdam

„Impressionisten in Russland“  eine Reise in ein fernes Land, das uns in jedem Bild als sehr vertraut entgegen tritt. Die Idee, anders als das Hergebrachte zu malen, das Gesehene so wiederzugeben, wie man es empfindet, diese Idee kannte keine Grenzen.

Museum Barberini, Potsdam
Alter Markt, Humboldtstraße 5-6
14467 Potsdam

Öffnungszeiten:
Täglich außer Di 10-19 Uhr,
jeden ersten Do im Monat 10-21 Uhr

Das Museum bietet ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm unter
www.museum-barberini.de/de/kalender/formate

Digital begleitet die Barberini App unter
www.museum-barberini.de/de/mediathek/1681/

Zur Einführung ist der Barbeine-Prolog zu empfehlen, unter
prolog.museum-barberini.de/impressionismusrussland

Im Prestel-Verlag München ist zur Ausstellung der Katalog erschienen, 30,00 € im Museumsshop,
39,00 € im Buchhandel